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Schlagwort: Zeitzeugengespräch

Jubiläum – 70 Jahre Schulentlassung

von Monika Jacob

Der riesige, viergeschossige Backsteinbau der heutigen 68. Oberschule wird im Volksmund noch immer gerne „Rote Schule“ genannt. Bis zum Jahr 1952 war es auch unsere Schule. Das Gebäude mit seinen doppelflügligen Eingangsportalen (eines für Mädchen und eines für Knaben), den ausgetretenen Holztreppen und gedrechselten Geländern ist uns allen gut im Gedächtnis geblieben. Dank Nachkriegszeit war der Unterricht dort mehr oder weniger planmäßig. Wir haben natürlich trotzdem viel gelernt und unsere Schulzeit war unvergesslich!

Im Mai 2014 haben wir das 1891 als Schule eröffnete Gebäude besucht und staunten sehr über die komplette Sanierung: Ein vergrößerter Schulhof, eine neue Schulbibliothek, eine moderne Mensa, Mehrzweckräume und Raum für Inklusion.

Lustige Erinnerungen rufen wir bei unseren Treffen immer wieder wach, z.B., dass wir als Schulanfänger etwas spöttisch „Erstenkrutzscher“ gerufen wurden. Ja und daheim kauften wir regelmäßig mit Lebensmittelkarten ein. So war es eben damals.

In der Nachkriegszeit erhielten wir hier in der Schule sogar eine Schulspeisung, z.T. mit 8g Fleischeinlage! Dieses Essen war schon manchmal fürchterlich, aber wir hatten ja Hunger. Eine Kohlrübensuppe war eigentlich mehr dazu angetan, sich das Essen ganz abzugewöhnen. Aber wir hatten ja Hunger, er war unser ständiger Begleiter. Manchmal gab es auch Milchnudeln. Das war ein Festtag, besonders für mich! Die erste Schokolade hieß übrigens „Vitalade“, eine nur nach Schokolade aussehende, aber nicht danach schmeckende Masse. Das Leben war eher bescheiden.
Wir erinnern uns, dass wir beispielsweise anfangs mit „Igelit-Schuhen“ kamen (im Winter waren sie sehr kalt und im Sommer bekam man feuchte Füße). Manche Schulstunden hatte jede von uns wohl auch mal stehend zugebracht. Zu der Zeit waren Stromsperren üblich, sodass die Kerzen daheim nicht nur der feierlichen Stimmung dienten. In der Freizeit sammelten wir gemeinsam Kartoffelkäfer und Buntmetall.

Auf dem Schulhof spielten wir viel, u.a. „Himmelhubbe“, „Völkerball“, „Bürger, Bauer, Bettelmann“, Verstecke usw. Besonderen Spaß hatten wir immer am „Tauchscher“ (die Wurzeln waren im Mittelalter), ein tolles Spektakel, an dem wir uns stets recht lustig verkleideten.

Ja und nun ist das alles schon 70 Jahre her, dass wir im Juli 1952 aus der damaligen 37. Grundschule in der Breitenfelder Straße 19 erfolgreich entlassen wurden. Im Mai 2001 trafen wir Ehemalige uns zum ersten Mal wieder und seitdem treffen wir uns regelmäßig jährlich mindestens zwei Mal. Viele kommen aus anderen Bundesländern und wohnen heute in Aachen, Duisburg, Dresden, Köln, Remscheid, Oberursel, Freising oder der Umgebung von Darmstadt bzw. Marburg. Bei diesem ersten, sehr lustigen Treffen im „Arabischen Coffee Baum“ stellten wir fest, dass auf alle Fälle aus allen etwas geworden ist!

Auch an unsere damaligen Lehrerinnen und Lehrer (Frau Manig, Frau Gasch, Frau Stoffregen und Herr Theil) erinnern wir uns oft und gern. Einige von ihnen waren sogar bei unseren ersten Treffen mit dabei. Wir sind unseren ehemaligen Lehrkräften von Herzen dankbar!

Bei unseren Treffen haben wir immer richtig viel Spaß. Manch eine bewahrt es sicher auch vor Einsamkeit. All unsere Schulerinnerungen von damals fügen wir ineinander wie in einem kleinen Puzzlespiel und da kommt echt viel zusammen. Kaum zu glauben nach so langer Zeit!

Selbst beim großen Jubiläumsfest „700 Jahre Gohlis“ am 12.08. 2017 waren wir dabei und wurden sogar vom Oberbürgermeister Burkhard Jung herzlich begrüßt.

Eines wünschen wir uns alle: Hoffentlich können wir uns noch sehr lange gemeinsam treffen und lachen.

Peter Niemann 2. Vorsitzender des Bürgervereins Gohlis e. V.

Ein Gohliser Jubiläum… und wer dazu gehört TEIL 5 – Peter Niemann

von Maria Köhler

Vor 8 Jahren war Peter Niemann maßgeblich am Erhalt des Bürgervereins Gohlis beteiligt. Seitdem hat er als Vorstandsmitglied zahlreiche Projekte in Gohlis angeregt und auch umgesetzt.

Peter, wer das Wirken des Bürgervereins in den letzten Jahren verfolgt hat, ist mit Dir in irgendeiner Form schon einmal in Berührung gekommen. Für alle die dich nicht kennen, wer bist Du und was machst Du?

Ich bin Peter Niemann, 36 Jahre alt und lebe mit meiner lieben Familie, meiner Frau und meinen drei Kindern in Gohlis-Nord. Aufgewachsen in Dessau, studiert in Marburg und Edinburgh, ist nun Leipzig seit 2010 mein Zuhause. Derzeit absolviere ich mein Referendariat am Schiller-Gymnasium und unterrichte die Fächer Englisch und Ethik. Ich bewege mich wahnsinnig gerne an der frischen Luft, gehe wandern mit der Familie, laufe mit Freunden und engagiere mich natürlich für meinen Stadtteil.

Warum engagierst du Dich für Gohlis?

Es war bei mir immer schon so, dass ich, egal wo ich gewohnt habe, geschaut habe, was ich Sinnvolles in Verbindung mit meinem Wohnort oder meiner Ausbildung tun kann. Sei es als Schüler damals im Jugendparlament oder in der Fachschaft der Uni. Meine Frau, sie ist Gohliserin, habe ich beim Studium in Marburg kennengelernt. Durch sie und den Umzug nach Leipzig habe ich Gerd Klenk kennengelernt, damals Vorstandsvorsitzender des Bürgervereins in Gohlis. Als 2014 die existenzielle Frage nach Auflösung des Bürgervereins oder Neustart stand, war es für mich keine Frage, mich für den Stadtteil zu engagieren, in dem ich lebe. Ich bin (leider) immer ziemlich schnell darin, die Hand zu heben, wenn es darum geht, dass etwas organisiert werden muss. Oft damit natürlich zum Nachteil für die Zeit, die meine Familie dann mit meinem Engagement teilen muss. Aber ich empfinde große Zufriedenheit darin, zu sehen, was man mit ein paar Stunden Aufwand für einen Mehrwehrt für einen ganz Stadtteil entstehen lassen kann.

2014 hast Du als Vorstandsvorsitzender gemeinsam mit Tino Bucksch (Schatzmeister) und Matthias Reichmuth (Stellvtr.) den Bürgerverein neu aufgestellt. Wie war die Ausgangslage und was waren die größten Herausforderungen?

Als ich mit 28 Jahren den Vorsitz des Vereines übernommen habe, war die Aufgabe in meinen Augen zwar groß, aber auch beherrschbar. Zahlreiche Mitglieder hatten sich aufgrund der angekündigten Auflösung verabschiedet, die finanzielle Situation des Vereines war angespannt. Was blieb, war das teure Büro in der Lindenthaler Straße und das Gohlis Forum. Die erste Zeit stand also ganz klar im Fokus der Mitgliedergewinnung und der Akquise von Mitteln für die Miete und Realisierung von Projekten für den Stadtteil.

Du bist seit fast einer Dekade im Einsatz für den Bürgerverein. Auf welche Ergebnisse schaust du gern zurück und was hätte es in der Zeit nicht unbedingt gebraucht?

Da gibt es einiges an richtig schönen Erlebnissen und Ergebnissen. Ich find es toll, dass wir mit dem Nordcafé ein wichtiges Begegnungsangebot im Stadtteil verstetigt haben, dass die Stadt das Budde-Haus nicht veräußert hat und wir als Verein in unser altes Zuhause zurückgefunden und dort Teil des Ganzen sein können. Nicht zuletzt freut mich, dass wir den interreligiösen Dialog im Leipziger Norden auf den Weg gebracht haben, der – für mich als nicht konfessionell gebundener Mensch – aufzeigt, wie gut es ist, wenn verschiedene Glaubensgemeinschaften eng im Kontakt sind.

Was es in den letzten Jahren viel weniger gebraucht hätte, sind natürlich die mit dem Ehrenamt verbundenen Herausforderungen im gemeinsamen Umgang mit der Zeit und der Erwartung von Menschen, die sich gemeinsam engagieren und die Verantwortung übernehmen. Nicht immer passt es gut zusammen, nicht immer hat man die gleichen Ziele vor Augen. Das ist natürlich herausfordernd und auch unschön, gerade dann, wenn es dazu führt, dass Menschen aus diesen Gründen ihre Verantwortung niederlegen.

Du sprichst das Thema Herausforderung im Ehrenamt an. Was mutest Du deinen Mitstreiter:innen zu, wenn sie mit Dir ehrenamtlich arbeiten?

Sie können sich sicher sein, dass ich mich ziemlich genau an mein Wort halte und dass ich versuche, meine Fristen verbindlich zu halten. Die Mitstreiter:innen können sich auf mich verlassen. Sie müssen dafür jedoch auch in Kauf nehmen, dass wenn man sich mit mir über ein Thema unterhält, mir sofort 10 Dinge einfallen, was und wie sich dazu Projekte und Feste realisieren ließen. Wenn mich etwas interessiert, dann sprudeln ganz viele Ideen. Klar gehört Diplomatie, vor allem im Austausch mit Ämtern und Institutionen zum Alltag, aber darüber hinaus kann es natürlich sein, dass sich Mitmenschen durch meine klaren Positionen vor den Kopf gestoßen fühlen. Im Idealfall klärt sich dies immer relativ schnell, weil man auf der gemeinsamen Suche nach dem Missverständnis geht und es im Gesprächen klären kann. Nicht immer ist dies möglich, auch das muss man aushalten können.

Einen regelmäßigen Mehrwehrt schaffst Du mit Deiner Frau Agnes mit der Erstellung des Gohlis Forum. Weshalb machst Du das?

Mit bereitet es große Freude, mit den verschiedenen Akteur:innen im Stadtteil zu sprechen. Als Redakteur gibt es dazu natürlich immer mal wieder Gelegenheit für einen intensiveren Austausch. Das macht Spaß! Gemeinsam habe ich mit meiner Frau 2014 bis Ende 2016 und dann wieder ab 2020 das Gohlis Forum verantwortet. Die Leitung ist und bleibt eine wunderbare, aber sehr zeitintensive Aufgabe, einen interessanten Mix an Geschichten, Neuigkeiten aus dem Stadtteil in eine Stadtteilzeitung zu gießen. Die Menschen hier lesen es gerne, fühlen sich informiert und entdecken immer wieder Neues. Das ist doch wunderbar!

Im Herbst stehen Neuwahlen an. Was willst Du bis dahin noch anpacken und wie geht es für Dich weiter?

Mit liegt es am Herzen, dass die Projekte und Initiativen, die wir angestoßen haben, sich hier im Stadtteil verstetigen. Darüber hinaus stellt sich mit dem Abschluss der Lehrerausbildung bei mir im kommenden Jahr die Frage, wo meine Familie und ich zukünftig wohnen werden. Wir träumen schon lange von einem Garten, mehr Ruhe und natürlich auch mehr Zeit für einander. Ob Irland, Alpen oder Küste – auch wenn ich wahnsinnig gerne in Leipzig lebe, es wird sich neu würfeln. Derzeit bin ich an 3-4 Abenden ehrenamtlich auf Veranstaltungen, in Gremien und Arbeitskreise, ob für den Bürgerverein oder als Stadtbezirksbeirat – ich wünsche mir, zukünftig mehr von meiner Familie ausgehend zu schauen, wo ich mich einbringen kann und nicht umgedreht schauen zu müssen, dass ich meine Familie irgendwie unterbringe.

Mit einem Blick zurück, wer waren in den vergangenen Jahren für Dich wichtige Wegbegleiter hier in Gohlis?

Ganz klar Gerd Klenk. Er hat mir viele Wege bereitet und er hat mich zur aktiven Vorstandsarbeit motiviert. Und natürlich Tino Bucksch. Er hat in den vergangenen Jahren als Schatzmeister unfassbar viel abgefangen, dafür bin ich unwahrscheinlich dankbar. Ohne meine Frau wäre mein Engagement für den Bürgerverein nicht möglich und auch beim Gohlis Forum sind wir ein unschlagbares Team. Und natürlich viele Menschen, auf die ich in den vergangenen Jahren zählen konnte, einfach weil sie verbindlich Vorhaben unterstützt haben und damit wesentlich zum Erfolg beigetragen haben.

Abschließend gefragt: Was wünschst Du Dir von den Gohliser:innen für die Zukunft?

Nutzt die Angebote in unserem Stadtteil – all das Gute ist so nah! Und natürlich der beständige Wunsch: Bringt euch ein, engagiert euch für unseren Stadtteil und gestaltet das Leben hier vor Ort mit. Es lebt sich so viel wunderbarer, wenn man gemeinsam das Viertel lebenswert gestaltet.

Ein Gohliser Jubiläum… und wer dazu gehört TEIL 4 – Prof. Werner Schneider

von Peter Niemann

Am 22. April 2022 ist es soweit. Wir feiern Geburtstag und zwar nicht irgendeinen Geburtstag! Entsprechend emsig sind wir schon seit einem Jahr dabei dieses Jubiläum vorzubereiten. Es gibt schließlich, und wie Sie dem Editorial entnehmen konnten, viel zu feiern. Wenn man dreißig wird und als Verein auf ein paar Jahrzehnte des Engagements im Stadtteil zurückblicken möchte, darf man natürlich nicht die Menschen vergessen, die in dieser Zeit Großes geleistet haben und ganz entscheidend zu unserer Entwicklung beigetragen haben.
In dieser Ausgabe möchte ich Ihnen Prof. Werner Schneider vorstellen. Viele kennen diesen Namen bestimmt durch die Leipziger Notenspur. Ein tolles Projekt, dessen Ideengeber und Initiator er ist und welches er bis heute als Vorsitzender des Leipziger Notenspur e.V. begleitet. Dieser unermüdliche Einsatz für musikalische Bildung und Erinnerungskultur wurde 2018 mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel ausgezeichnet. Im Jahr 2020 erhielt Prof. Schneider zudem einen Bundesverdienstorden als Anerkennung seines Engagements für das Gemeinwohl.
Wir würden ihn an dieser Stelle allerdings nicht vorstellen, wenn es nicht in seiner Biographie Bezüge zu unserem Stadtteil und sogar zu unserem Bürgerverein gäbe. Ich habe mich Anfang Januar mit ihm zu einem virtuellen und wie ich finde sehr freundlichen Interview zusammenfinden können.

Ich bat Prof. Schneider zunächst um eine kurze Vorstellung und einen Einblick in seinen interessanten Lebenslauf.

Werner Schneider ist 70 und von Beruf Physiker. Seinen DDR-Lebenslauf bezeichnet er als „etwas abgeknickt.“ Er ist nach dem Abitur Christ geworden und es war ihm dadurch nicht möglich, unter dem damaligen Regime einfach nur in Ruhe an der Universität Halle zu studieren. Eine in das Physikstudium integrierte Armeeausbildung verlangte nach einem Gelöbnis, welches er nicht abzulegen bereit war. Über viele Umwege, Wehrersatzdienst, Einsatz bei den Bausoldaten und dergleichen folgte 1976 endlich der Studienabschluss. Als Diplom-Physiker war der eigentliche Plan, an der Akademie der Wissenschaften am Institut für Elektronenmikroskopie im Bereich theoretische Physik zu forschen. Wieder einmal kam das System dazwischen und verwehrte ihm diese Chance. Der Weg führte stattdessen in eine Stahlgießerei bei Gera. Ende der 70er Jahre brauchte es zunächst die Anschlussstelle als Statiker bei Polygraph in Leipzig (Anger-Crottendorf), bevor die Wohnung der Schwester übernommen und der Umzug nach Leipzig angegangen werden konnte. Zuletzt war er dort Betriebsratsvorsitzender. Nach der Wiedervereinigung kann er, mit ca. 15 Jahren Verspätung, seine akademische Laufbahn endlich fortsetzen, die schließlich in der Habilitation an der Universität Leipzig, nebst Lehrstuhl (2003) mündet. 2008 wurde er zum Professor für Statik und Dynamik der Tragwerke an der TU Dresden berufen, wo er bis 2016 forschte und lehrte. Mittlerweile ist er emeritiert und kümmert sich mit gewohntem Eifer um sein Lieblingsprojekt, die Notenspur mit allem was dazu gehört.

Was war eigentlich damals Ihre ganz persönliche Motivation, sich im Bürgerverein zu engagieren?

Wir sind 1992 nach Gohlis, an den Coppiplatz gezogen. Ich bin dem Bürgerverein etwa ein halbes Jahr nach der Gründung beigetreten und habe das erstmal interessiert aus der Ferne beobachtet. Als Einzelperson kann man viel weniger verändern und beeinflussen. Ein Verein hat mehr Gewicht. In der DDR haben wir Mitwirkungsmöglichkeit eingefordert und ich hätte es komisch gefunden, nach der Wende dann zu sagen „ich mache es nicht.“ Parteien kamen für mich nicht in Frage. Da hatte ich einfach zu viele Erfahrungen während meiner Arbeit im Betriebsrat und mit Gewerkschaften gesammelt. Ich wollte nicht, dass meine eigenen Entscheidungen durch ein Programm oder eine Agenda eingeschränkt werden. Verkehr hat mich schon zu dem Zeitpunkt sehr interessiert. Ich bin damals bereits viel Rad gefahren und habe die Entwicklung nach 1990 beobachtet. Es kamen massenhaft Autos dazu und keiner hat sich um Radfahrer Gedanken gemacht. Da wollte ich mich stark engagieren. Zwar waren die anderen Themen des Bürgervereins auch interessant aber die der Arbeitsgemeinschaft Ordnung, Umwelt, Verkehr waren am verlockendsten. Ich bin da damals einfach rein. Als der AG-Vorsitz vakant wurde, habe ich dann gerne die Leitung übernommen. Später bei Projekten mit der Notenspur konnte ich sozusagen auch sehr von der Zeit im Bürgerverein profitieren, da ich auf viele Kontakte zur Stadtverwaltung, zum VTA, den verschiedenen Dezernenten usw. zurückgreifen konnte. Mein Engagement für den Bürgerverein musste ich spätestens mit dem Wechsel an die TU Dresden aufgeben. Seit ca. 2004 trat die Notenspur mehr und mehr in den Vordergrund und hat einen Großteil meiner freien Zeit beansprucht. Als dem Bürgerverein Gohlis dann im Jahr 2014 kurzzeitig die Auflösung drohte, trat ich aus. Seit 2016 wohne ich nun schon im Musikviertel.

An der Stelle muss darauf verwiesen werden, dass natürlich noch heute Arbeitsgemeinschaften mit den entsprechenden, thematischen Schwerpunkten im Bürgerverein aktiv sind. So gibt es die sehr emsige AG Mobilität und Verkehr sowie die gerade erst gegründete AG Umwelt und Klima.

Wenn Sie nun auf Ihre Zeit im Bürgerverein, in der Arbeitsgemeinschaft zurückblicken, welche Projekte liegen bzw. lagen Ihnen denn besonders am Herzen?

Der Coppiplatz. Dort herrschte am Anfang, nach der Wende absolutes Chaos. Es gab keine Insel für die Straßenbahn. Die Verkehrsteilnehmer konnten aus allen 7 Richtungen überallhin abbiegen. Dort haben wir dann Bürgerforen mit den zuständigen Dezernenten initiiert und unsere Vorstellungen geäußert. Wir haben in Eigeninitiative Pläne angefertigt und diese dann an die Verwaltung gegeben. Es gab sogar eine Pressekampagne wo wir dafür gekämpft haben, dass keine Mittel für eine, zu dem Zeitpunkt und ohne erkennbaren Nutzen, geplante Neugestaltung des Liviaplatzes (Waldstraßenvierel) investiert wurden. Mit Erfolg. Das Geld wurde dann stattdessen und sinnvoller Weise in den Umbau des Coppiplatzes investiert. Ebenfalls ein großer Erfolg war die Realisierung einer Ampelanlage an der Haltestelle Stallbaumstraße. Hier war die Stadtverwaltung zunächst gleichgültig und sah keinen Sinn in einer Fußgängerampel. Obwohl Bedarf bestand, da zu der Zeit auch sehbehinderte Menschen diese Haltestelle stark nutzten und eine Überquerung grundsätzlich schwierig und gefährlich war. Bürgerversammlungen und Aktionen haben die Verwaltung schließlich zum Umdenken bewegt. Ein weiteres Thema, welches im Stadtteil zu meiner Zeit kontrovers diskutiert wurde, wo es auch Bürgerforen gab, war der sog. Durchbruch der Linie 4 hin zur Gohliser Straße. Das Projekt wurde ja zum Glück fallengelassen. Bis zum heutigen Tag nicht zu Ende gebracht wurde leider die verkehrsarme Radachse entlang des Gohliser Bahnbogens. Hier wurden bloß Teilstücke realisiert, etwa zwischen Lützowstraße und Sasstraße bzw. Sasstraße und Lindenthaler Straße und hin zur Breitenfelder Straße.

Nehmen Sie die Tätigkeit des Bürgervereins heute noch wahr? Gibt es noch einen Bezug zum Stadtteil Gohlis?

Auch wenn ich jetzt nicht mehr in Gohlis wohne, gibt es noch einen Bezug. Ich bin schon sehr lange in der ev.-methodistischen Bethesdakirche bzw. in der Gemeinde. Schon zu DDR-Zeiten (seit den 70er Jahren) war ich dort mit meiner Frau lange Jahre für die Jugendarbeit verantwortlich.

In diesem Zusammenhang stellen wir auch fest, dass wir uns bereits begegnet sind. Damals im Frühjahr 2017 und im Keller des Gemeindehauses der Röm.-Kath. Pfarrei St. Georg in der Hoepnerstraße 17. An diesem Tag waren wir beteiligt an der Entscheidung über den genauen Ort für das Nordcafé, gemeinsam mit VertreterInnen der verschiedenen Gohliser Kirchgemeinden und Religionsgemeinschaften und Aktiven der Initiative Weltoffenes Gohlis. Die Wahl fiel an diesem Tag auf die Bethesdagemeinde in der Blumenstraße. Das Nordcafé öffnet genau an diesem Ort noch immer (wenn die pandemische Lage es zulässt) jeden Dienstag seine Pforten und Frau Schneider engagiert sich dort regelmäßig für die Besucherinnen und Besucher.

Herr Schneider. Vielen Dank!

Mühlenbau in Gohlis – Im Interview mit Hans-Martin Kählitz – TEIL II

von Peter Niemann

Es ist wieder Montag und wieder befinde ich mich in der Olbrichtstraße, genauer gesagt in den Räumlichkeiten der Alten Heeresbäckerei. Es ist nun schon Herbst und das Licht tritt etwas gedämpfter durch die hohen Fenster des Raumes. Wieder führe ich ein interessantes Gespräch mit Herrn Kählitz und wieder vergehen die Stunden wie im Flug. In der Ausgabe 4/2021 des Gohlis Forums ging es ja in einiger Ausführlichkeit um dessen Großvater Bruno Wollstädter (* 14. Juli 1878 | † 17. Februar 1940), welcher als Bildhauer in Leipzig und weit darüber hinaus zu einiger Berühmtheit gelangte. Diesmal soll das unternehmerische Wirken von Herrn Kählitz selbst und dessen Familie im Vordergrund stehen.

Wie berichtet, blickt er auf ein ebenso langes wie erfülltes Leben in Gohlis zurück. Der Grundstein dafür wird früh gelegt, als der Vater 1935 für die Familie ein Haus in der Baaderstraße in Gohlis-Mitte kauft. Als Dreijähriger zieht Kählitz dort ein. Die Schulzeit beginnt für ihn 1938 in der heutigen Carl-von-Linné-Grundschule in der Delitzscher Straße. Während des Krieges dann und aufgrund einer Umnutzung des Gebäudes zum Lazarett wechselt er zur heutigen 33. Grundschule in die Theresienstraße. Der weitere Bildungsweg führt 1942 auf die Wirtschaftsoberschule im Gebäude der heutigen Volkshochschule (Löhrstraße). Es fühlt sich hier gut an – im Gedächtnis bleiben „vorzügliche Lehrer“. Als Ziel kristallisiert sich das Abitur als Vorbereitung auf ein Wirtschaftsstudium heraus. Ein einschneidendes Erlebnis, so erinnert er sich, war die Evakuierung der Klasse im Jahr 1943. Im Rahmen einer sog. KLV (Kinderlandverschickung) wurden Kinder und Jugendliche aus den urbanen Räumen ins ländliche Sachsen evakuiert, um der Bombengefahr durch alliierte Luftangriffe zu entgehen. Das erste Mal von Eltern und Geschwistern getrennt, lebt er in Falkenstein (Vogtland) in ständiger Furcht um seine Familie. Kurze Kommunikationswege gibt es keine und entsprechend erleichtert ist er über jede Postkarte von daheim. Auch das Leben im Lager prägt ihn. Es geht militärisch zu und die Lieder, die regelmäßig zum Marsch gesungen werden, haben sich bis in den heutigen Tag eingebrannt. Ein gutes Jahr später und nach „einigem Geningel“ geht es endlich zurück nach Leipzig. Bis zum Kriegsende: Leibniz-Schule, welche als „normales Gymnasium“ viel Druck und schlechte Noten mit sich bringt und „in unangenehmster Erinnerung geblieben“ ist. Nach Wiedereröffnung der Wirtschaftsoberschule in der Löhrstraße, sogar mit einem Großteil des ursprünglichen Lehrkörpers, liegt ein Wechsel nahe um auf das Abitur hinzuarbeiten. Allerdings wird die Schule 1949 wieder geschlossen und dieser Plan jäh durchkreuzt. Dennoch ein gutes Timing, da Kählitz so zumindest die Mittlere Reife mit Abschluss der 10. Klasse erhält.

Der folgende Lebensabschnitt führt in die Firma des Vaters Kählitz und Lübcke – Mühlsteinfabrik und Mühlenbauanstalt gegr. 1894, um einen handwerklichen Beruf zu erlernen: den des Mühlenbauers. Genau genommen ist er sogar einer der beiden letzten Mühlenbauer, die jemals in Leipzig ausgebildet wurden. 1952 absolviert Kählitz die Gesellenprüfung. Der ursprüngliche Plan, ein Besuch der Ingenieurschule Nahrungs- und Genussmittel, geht nicht auf. Leider spielen fachliche Eignung und wiederholte Bewerbung keine sonderliche große Rolle, da der Vater ‚Kapitalist‘ ist. Es liegt nahe, zunächst beim Vater unterzukommen und dort in der Produktion, mal als Tischler oder Schlosser oder eben auf Montage im Mühlenbau zu unterstützen.

Familie Kählitz vor dem Firmengelände
Familie Kählitz vor dem Firmengelände

Mit der Erkrankung des Vaters im Jahr 1956 wechselt Kählitz langsam in die Verwaltung des Betriebes. Die Übernahme scheiterte zunächst am Erwerb eines eigenen Gewerbescheins, denn ein Ausbau von Privatbetrieben war so nicht vorgesehen. Der schlussendliche Kompromiss: Eine staatliche Beteiligung und Einflussnahme in Arbeit und Produktion gemäß staatlicher Planvorgaben im Gegenzug für den Schein. Laut Kählitz, der mit dem Tod des Vaters im Jahr 1959 geschäftsführender Gesellschafter wird, ist das Maß an unternehmerischer und organisatorischer Freiheit im nun ‚eigenen‘ 20-Personen-Betrieb gerade noch erträglich. Bis 1972 folgt dann ein in der wirtschaftlichen Situation der DDR begründetes Auf und Ab. Mit Improvisation und einigen Projekten, die nicht wirklich etwas mit Mühlenbau zu tun hatten, kann der Betrieb aufrechterhalten werden.

Die Verstaatlichungswelle schluckt auch Kählitz’ Unternehmen kurzerhand und ohne Ankündigung. Ein Parteibeauftragter „setzte ihn mündlich darüber in Kenntnis, dass sein Betrieb nunmehr ein staatlicher Betrieb sei.“ Als Ausgleich erhält er ein paar Mark und immerhin die Möglichkeit, dann künftig als Direktor des nun Volkseigenen Betriebes tätig zu sein. Unterm Strich reicht es nicht, er hat schließlich eine Familie. Neben dem Beruf nutzt Kählitz jede Gelegenheit, sich an der Karl-Marx-Universität Leipzig im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich weiterzubilden. So machte er 1971 schließlich einen Abschluss als Diplom-Ökonom.
Als VEB-Direktor leitet er noch bis zum 1. April 1988 die Geschicke des Betriebs. Dann setzt man ihn ab. Grund dafür war – und das habe man ihm deutlich gesagt, die fehlende Parteizugehörigkeit. Ersetzt wird er durch einen Genossen, der seinen Mangel an fachlicher Qualifikation durch die passende Parteizugehörigkeit ausgleichen kann. Frustriert verlässt Kählitz das Familienunternehmen und schwört sich, den Betrieb nie wieder zu betreten, solange die Partei involviert ist. Schließlich arbeitet er bis zur Wende als ökonomischer Leiter des VEB Leipziger Stadtreinigung.

Im Januar 1990 stellt Kählitz 1990 einen Antrag auf Re-Privatisierung bei der Stadt bzw. Treuhand. Die Verhandlungen ziehen sich bis 1992. Dank kapitalstarker Partner kann ein neues Unternehmen am gleichen Ort gegründet werden. Anstatt mit Mühlenbau wird das Geschäft an der Virchowstraße/ Ecke Max-Liebermannstraße nun mit Blechbearbeitung und Bedachung gemacht. Es „lief hervorragend“ und schon bald werden Dependancen in Chemnitz und Dresden eröffnet. In diesem Betrieb arbeitet Kählitz als Gesellschafter bis zu seiner Rente mit. Es gibt ihn noch, er befindet sich heute in der Maximilian-Allee. Am 1.1.1997 trifft Kählitz eine Entscheidung. Er findet, es sei ein guter Zeitpunkt aufzuhören – „er wollte raus“ und erklärt seinen Renteneintritt via Telefon.
Mit dem Ruhestand beginnt Kählitz seine intensiven Recherchen über das Schaffen des Großvaters Bruno Wollstädter. Wie eingangs geschrieben, berichteten wir dazu in Teil I des Interviews im Gohlisforum 4/ 2021 (nachzulesen unter www.gohlis.info).

 

Fazit: Zeitzeugenprojekt an der Schillerschule

von Ursula Hein und Wolfgang Leyn

Als Herr Leyn und ich 2019 in der Klasse 10/1 der Schillerschule das Zeitzeugen-Projekt zu den Ereignissen von 1989/90 vorstellten, konnte keiner ahnen, wie kompliziert die Realisierung sein würde. Die Klasse, in neun Gruppen aufgeteilt, die jeweils einen der Zeitzeugen befragen sollten, ging mit Feuereifer ans Werk. Dann aber kam Corona, und das Projekt drohte zu scheitern, denn Interviews per Telefon oder Internet können die persönliche Begegnung nicht ersetzen.

Dann kam der sonnige Mai, und die Gruppen trafen sich mit ihren Interviewpartnern meist im Gartenpavillon des Budde-Hauses oder in privaten Gärten, wie Sie ja auf den Bildern in den vergangenen „Gohlis Foren“ sehen konnten.

Für die Schüler war es ein lohnendes Projekt. Es erweiterte ihren Horizont, und sicher haben sie zu Hause bei Eltern, Freunden und Verwandten weitergefragt. Das sei auch anderen empfohlen. Man darf ja nicht vergessen, die Zeitzeugen werden älter und mit der Zeit vergesslicher. Und irgendwann sind sie nicht mehr da.

Wir danken an dieser Stelle Herrn Geyer, dem Geschichtslehrer der Klasse, für seinen Einsatz. Seine Kollegen in den Gohliser Schulen möchten wir ermutigen, auch ihren Schülern die Erfahrung einer Zeitzeugenbefragung zu vermitteln. Themen gibt es genug: zum Beispiel die Veränderungen nach 1990 in Leipzig, Flucht und Vertreibung in unserer Zeit, Erlebnisse während der Corona-Krise.

Hiermit verabschieden wir uns als Autoren des Gohlis Forums und wünschen Ihnen weiter interessante Beiträge.

Geschichte in Geschichten (Teil 9) – Schüler fragen Zeitzeugen: Gotthard Weidel

von Denise Beck, Flora Budde, Paul Schreiber

Gotthard Weidel, geboren 1947, wuchs in der DDR auf. Als Wehrdienstverweigerer studierte er Theologie von 1967 – 1972 in Leipzig. Nachdem er als Pfarrer in Kahnsdorf tätig war, kam er 1984 an die Friedenskirche in Gohlis. Seit den 80er-Jahren nahm Gotthard Weidel aktiv an den Friedensgebeten teil. Am 9. Oktober 1989, dem Tag der Entscheidung, hielt er in der Nikolaikirche die Predigt zum Friedensgebet. Nach 1996 arbeitete er bis zu seiner Pensionierung 2009 als Soldatenseelsorger in der Bundeswehr.

Wie war Ihr Verhältnis zum DDR-Regime?
Pfarrer Weidel: Ich wurde in der DDR nicht verfolgt, litt aber unter Rechtlosigkeit, am Mangel von Gestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Leben und an fehlender, persönlicher Freiheit. Für das tägliche Brot in der DDR war gesorgt. Die restlichen Dinge musste man sich organisieren. Wir lebten in der „größten DDR der Welt“, aber sie war in keiner Weise weltoffen. Keiner rechnete mit dem Fall der Mauer oder dem Niedergang der DDR. Deshalb wollten viele das Land verlassen. Sie sahen für sich in der DDR keine Zukunft .

Ich bin heute noch der Meinung, dass, wenn es in der DDR mehr Teilhabe oder Gespräche gegeben hätte, wären Entwicklungen möglich gewesen. Aber – die Menschen mit ihren kritischen Fragen und kreativen Fähigkeiten wurden nicht ernst genommen. Das sind meine Erfahrungen. Wer damals in Leipzig lebte, konnte alle Probleme der DDR hautnah miterleben.

Herrschte innerhalb Ihrer Gemeinde eine einheitliche politische Position?
Pfarrer Weidel: Nein. Ich denke, das ist ganz normal… Viele Mitbürger, die den 2. Weltkrieg und den 17. Juni 1953 erlebt hatten, waren damals nicht der Meinung, etwas verändern zu können. Für sie war es eher eine Frage, wie können wir in Ruhe leben. Das musste ich akzeptieren. Es gab auch Menschen, denen die Forderungen nach Entwicklung und Teilhabe zu lasch waren. Wiederum gab Christen, die die Meinung vertraten, dass allein das Gebet friedliche Veränderungen bringen kann und das Entscheidende im Leben eines Christen ist.

Wir nahmen sehr bewusst in der Friedenskirche diese Themen wahr. Auf der einen Seite versammelte sich die „Gruppe Hoffnung“. Die Antragssteller, welche die DDR verlassen wollten, fanden keinen Ort, an dem sie sich versammeln konnten. Auf der anderen Seite traf sich eine „Dialog – Gruppe“. Ihr Ziel bestand nicht darin, die DDR zu stürzen. Vielmehr wollten die Teilnehmer mitreden, mitgestalten und das Land verändern. Ich arbeitete mit engagierten Gemeindeglieder in dieser Gruppe zusammen.

Ich erlebte, dass oft interessierte, engagierte und junge Menschen den „Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR,“ wie es offiziell hieß, stellten. Die zurück bleibenden Eltern, Freunde oder Kollegen waren hier verwurzelt. Sie erlebten schmerzhaft, wie ihre Kinder und Enkelkinder nach der Ausreise hinter einer fast undurchlässigen Grenze im Westen lebten. Nur zu besonderen Anlässen konnte ein Antrag auf eine Reisegenehmigung gestellt werden. Während einer Demonstration im Herbst 89 wurde eine ältere Frau von einem Reporter gefragt: „Warum sind sie hier?“ Sie antwortete: „Unsere Kinder und Enkelkinder gehen in den Westen. Wir bleiben zurück. Das muss anders werden.“ Die Menschen und Familien wurden durch solche Erfahrungen zerrissen.

Gab es staatlichen Druck oder Benachteiligungen, um Sie von Ihrer Mitwirkung in kirchlichen Initiativen abzuhalten?
Pfarrer Weidel: Viele Menschen in der DDR erlebten Benachteiligungen oder Ärgernisse. Besonders in den 50er- und 60er-Jahren wurden Andersdenkende verfolgt, verurteilt und inhaftiert. Damit ist mein Leben nicht zu vergleichen. […] Einmal sagte eine Lehrerin im Unterricht zu meinem Sohn: „Was nützt es, wenn dein Vater „preedigt“, dann fuhr sächsisch fort, „und wir haben keene Breetchen?“ Der Beruf des Vaters darf keine Rolle für einen Lehrer gegenüber seinen Schülern spielen. Ich wollte die Lehrerin umgehend sprechen. Es war nicht möglich. Ich versuchte es mehrmals und hatte keinen Erfolg. Erst als ich mich an den Rat der Stadt wandte, erfolgte eine Reaktion in der Schule. Es wurde von einem Missverständnis gesprochen. Eigentlich hatte ich die Absicht, mit der Lehrerin in einen Dialog zu treten. Ein Gespräch wurde mir verweigert.

Waren auch Ihre Familienmitglieder von Schikanen betroffen?
Pfarrer Weidel: Meine Frau hatte Ökonomie studiert. Sie konnte in der DDR nie einen leitenden Posten erreichen, weil sie die Frau eines Pfarrers war.

Hatten Sie Angst, dass Ihre kritische Haltung gegenüber der DDR negative Folgen nach sich ziehen könnte?
Pfarrer Weidel: Ja, während der Demonstrationen im Herbst 1989 hatten wir Angst. Entweder meine Frau oder ich konnten jeweils an einer Demonstration teilnehmen. Unsere Kinder sollten im Falle einer Verhaftung nicht allein bleiben. […] Es gab damals Verhaftungen. Gleichzeitig zeigten viele Solidarität mit den Verhafteten. An der Nikolaikirche waren die Fenstergitter mit Namen von verhafteten Personen, mit Blumen, Mitteilungen, Gebeten und Grüßen bestückt. Die Menschen hatten die staatliche Bevormundung satt. Sie hatten zwar Angst, aber ließen sich ihren Mut und Zuversicht nicht nehmen. Auf der Straße überwanden sie Schritt für Schritt ihre Angst. Aus den 70.000 am 9. Oktober wurden eine Woche später 125.000 Demonstranten.

Wie drückend empfanden Sie Ihre Verantwortung als Pfarrer?
Pfarrer Weidel: Die Kirche war ein geschützter Raum. Als Mitglied der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der UNO, musste die DDR auf die öffentliche Meinung anderer Staaten Rücksicht nehmen. […] Wir, die Kirchen, waren der einzige nicht integrierte Bestandteil in der DDR… Als Pfarrer konnte ich so Räume der Kirchgemeinde hilfesuchenden Menschen zur Verfügung stellen. Im Juli 1989n fand ein Kirchentag in Leipzig statt. Eine Gruppe demonstrierte mit chinesischen Schriftzeichen und erinnerte an den 1989 niedergeschlagenen Aufstand auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ in Peking. Diese Gruppe setzte nach dem Kirchentag auf der Karl-Liebknecht-Straße ihre Demo fort. Sofort verfolgte die Staatssicherheit die Teilnehmer. Sie flüchteten zur Peterskirche. In die Peterskirche folgten die Mitarbeiter der Staatssicherheit nicht. Es gab auch für die Stasi Grenzen. Kirchen sind seit dem Mittelalter ein Zufluchtsort für Verfolgte.

Am 5. Oktober, während einer Dienstberatung aller Leipziger Pfarrer mit dem sächsischen Landesbischof Johannes Hempel, sprachen wir über das am 9. Oktober bevorstehende Friedensgebet. Es stand die Frage im Raum: Ist es verantwortlich, das Friedensgebet durchzuführen? Es kann sein, so lauteten unsere Überlegungen, dass es nach der Beendigung zu Auseinandersetzungen mit den staatlichen Organen kommt. Andererseits: Ist es verantwortlich, das Friedensgebet abzusagen?

Das Resultat lautete: Es werden am kommenden Montag in mehreren Innenstadtkirchen unserer Stadt Friedensgebete durchgeführt! Die Kirchen bleiben bis zur Beendigung der Demonstration als Fluchtmöglichkeit offen.

Sie haben am 9. Oktober in der Nikolaikirche die Predigt gehalten. Was war Ihnen dabei besonders wichtig zu vermitteln?
Pfarrer Weidel: Unser Thema lautete: „Volkes Stimme lasst uns sein“. Daraus wurde auf der Straße „Wir sind das Volk“. Das lag in der Luft. Eine Basisgruppe erarbeitete das Konzept des Friedensgebets. Nach dem brutalen Vorgehen der Polizei am 7. Oktober schrieb ich meine Predigt neu. Sie sollte offen, einladend und dialogfähig sein. Die Menschen sollten auch mit unterschiedlichen Anschauungen als Gesprächspartner ernst genommen werden. Ich zitierte „Das Rad der Geschichte kann nicht zurückgedreht werden“ und fuhr fort: „Das gilt auch jetzt in unserer Stadt. Wir müssen miteinander reden. Dieses Land und unsere Stadt lässt sich nur auf diese Weise verändern.“

Am 9. Oktober 1989 gab es eine Liste, auf welcher 130 Personen – unter anderem auch Sie – vermerkt waren, für die Verhaftungen vorgesehen waren. Fürchteten Sie sich vor einer Festnahme?
Pfarrer Weidel: Ich ahnte, dass es Listen für geplante Verhaftungen gibt. Mir war klar, dass sich im Falle einer Verhaftung meine Kirche für mich einsetzt.

Welche Erwartungen haben Sie damals mit der Friedlichen Revolution verbunden? Sind diese in Erfüllung gegangen?

Pfarrer Weidel: Ich kenne niemanden, der damals den Sturz der DDR wollte. […] Die Macht der SED wurde von der Staatssicherheit abgesichert. Die hochgerüstete Sowjetunion und die besondere politische Lage im geteilten Deutschlands schlossen nach meiner Meinung weitgehende Veränderungen aus. Erst 1990 erkannte ich, wie kleinkariert mein Realismus war. Ein Jahr später gab es die DDR nicht mehr. […] Aber – ich besaß im Oktober 1989 die Hoffnung auf Veränderungen. Ich wollte über Fragen und Themen sprechen, die mich und meine Gemeinde beschäftigten. Ich wollte frei sein.

Welche allgemeinen Forderungen existierten in der kritischen Bevölkerung?
Pfarrer Weidel: Die Menschen wollten eine freie Presse, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, selbstständige Parteien und freie Wahlen. Das war wenig. Es sind die Grundelemente bürgerlicher Freiheit. Wenn diese Forderungen erfüllt worden wären, musste die DDR zusammenbrechen. Das ist mir später klargeworden.

Haben Sie sich mehr von der Wende erhofft? Und wurde Ihnen seitens Ihrer Gemeindemitglieder von Enttäuschungen berichtet?
Pfarrer Weidel: Als Pfarrer erlebte ich vieles auf einer persönlichen Ebene hautnah mit, aber meine Erwartungen hielten sich in Grenzen.

Viele Menschen erwarteten, dass sich auf einmal das Füllhorn öffnet. Diese Vorstellung war eine Illusion. Die versprochenen blühenden Landschaften sind heute vorhanden. Da kann man sagen, was man will. Aber – ich denke an meine Gemeindeglieder, die nach einem langen Berufsleben arbeitslos wurden. Was bedeutet es, plötzlich die Arbeit zu verlieren und in soziale Notlagen oder Abhängigkeiten zu geraten? Es war für viele auch eine Katastrophe.

Redaktionell bearbeitet von Ursula Hein und Wolfgang Leyn

Gesucht: Zeitzeugen für neue Budde-Haus-Chronik

von Jürgen Schrödl

Manch einer kennt sie vielleicht noch: 1999 erschien im Rahmen der Reihe „Gohliser Historische Hefte“ des Bürgervereins Gohlis e. V. eine über 100-seitige Broschüre mit Beiträgen über die Geschichte des Budde-Hauses. Diese Auflage ist längst vergriffen und die Entwicklung inzwischen über zwanzig Jahre vorangeschritten. Deshalb möchte der FAIRbund e. V. – seit 2017 der Betreiber des Budde-Hauses – im nächsten Jahr in Kooperation mit dem Bürgerverein Gohlis eine neue Chronik über das Budde-Haus herausbringen.

Das Buch soll die lange und wechselvolle Ära des Gebäudes und des Geländes vom Wohnort der Fabrikantenfamilie Bleichert bis zur heutigen Nutzung als soziokulturelles Zentrum aufzeigen. Und das nicht allein für Leipziger Geschichts-Fans, sondern für viele Interessierte unterhaltsam aufbereitet, mit vielen authentischen Geschichten und Abbildungen. Dafür suchen die Macher*innen des Budde-Hauses die Unterstützung von Zeitzeugen, von Menschen, die im Budde-Haus lebten, arbeiteten, die hier zu Gast oder in anderer Art und Weise aktiv waren und etwas Spannendes darüber zu erzählen haben.

Gefragt sind Erlebnisse, Anekdoten, besondere Ereignisse, geschichtliche Entwicklungen, Fotos, Zeichnungen, Dokumente etc. Dabei sollen keine fertigen Artikel eingesandt werden, sondern
es werden Interviews geführt. Interessierte Zeitzeugen melden sich dafür bitte bis zum
30. September im Budde-Haus unter Telefon 0341 90960037 oder per Mail an kontakt@budde-haus.de (Kennwort: Budde-Haus-Chronik). Für alle Beiträge, die in der Budde-Haus-Chronik erscheinen, erhalten die jeweiligen Zeitzeugen ein kostenfreies Exemplar sowie eine Danksagung im Buch.

Die Umsetzung des Buches erfolgt in Kooperation zwischen dem Budde-Haus und dem Bürgerverein Gohlis. Der Montbertus Verlag aus Leipzig wurde mit der Gesamtproduktion beauftragt.

Geschichte in Geschichten (Teil 8) – Schüler fragen Zeitzeugen: Brigitte Eichelmann

von Felix Böhme, Johannes Kater, Vinzent Schneider

Brigitte Eichelmann, geboren 1941, hat von 1947 bis 1955 die „Turmschule“, die heutige Friedrich-Schiller-Schule, besucht. In den Jahren 1955 bis 1958 absolvierte sie ihre Lehre bei der Sparkasse und begann anschließend ihre Arbeit in einer Geschäftsstelle der Sparkasse im Süden von Leipzig, seit 1961 in der Filiale in Gohlis, von 1965 bis 1998 als Filialleiterin. Dort hat sie am 1. Juli 1990 im Rahmen der deutsch-deutschen Wirtschafts-Währungs- und Sozialunion den Geldumtausch von Ostmark in D-Mark miterlebt und selbst vollzogen.

Wie sind Sie zur Sparkasse gekommen?
Meine Klavierlehrerin sagte: Ja, was willst du denn mal werden? Ja, sage ich, ich möchte mal Apothekerin oder Ärztin werden. Wie wollt ihr das stemmen, deine Mutti, wenn ihr fünf Kinder seid? Würde es dir gefallen, bei der Sparkasse zu arbeiten? Das war was ganz Neues. Was soll ich bei der Sparkasse? Ihre Tochter, die Sekretärin des Direktors, wollte sich dann für mich einsetzen.

Ich bin nach Hause und hab zu meiner Mutti ich gesagt: “Also ich trag‘ was zum Lebensunterhalt bei, ich werde zur Sparkasse gehen.“ Zurück bin ich geflitzt und hab gesagt: „Ich mach das.“ Dann hab‘ ich die Ausbildung gemacht. Zu DDR-Zeiten wurden ja Frauen sehr gefördert. Da gab es viele Möglichkeiten, und so habe ich dann die Finanzschule Gotha nebenher gemacht – Frauensonderstudium.

Und ein schönes Leben war es bei der Sparkasse. 1961 habe ich als Kassiererin angefangen und schon 1965 die Geschäftsstelle als Leiterin übernommen. Dort habe ich von 1961 bis 1998 gearbeitet: Das war eine schöne, schöne Zeit. Ich habe diese Entscheidung nie bereut
Ich habe immer mit vielen netten Menschen zu tun gehabt. Die Gohliser Straße war vom Publikum ganz toll. Wir hatten die gesamte Belegschaft des Funkhauses in der Springerstraße als Kunden und viele Prominente aus Kultur sowie Medizin, Sport und Professoren.

Waren Sie die Einzige, die so jung in der Sparkasse angefangen hat?

Nein. Wir waren 34, die dort gelernt haben, und da waren vier, die entweder die zehnte Klasse hatten oder Abitur.

Wie waren für Sie die Abläufe in der Sparkasse, gerade weil Sie sehr jung angefangen haben?
Wir hatten 88 Geschäftsstellen in der Stadt und im Landkreis, eine in der Großmarkthalle. Dahin kamen Obst-und Gemüsehändler, kleine Einzelhändler, dort war ich im ersten Lehrjahr, im zweiten dann in der Geschäftsstelle am Schlachthof in einer Baracke, dahinter ein gemauerter Anbau mit dem Tresor.

Warum glauben Sie, dass niemand mit dem Gedanken gespielt hat, dort einzubrechen?
Aber wir hatten ja eine Binnenwährung, mit der konnte man nur in der DDR etwas anfangen. Und wenn ich plötzlich Geld gehabt hätte, ich weiß es nicht, das wäre aufgefallen.

Als Ihre Ausbildung zu Ende war, wie ging es dann für Sie weiter?
In der Geschäftsstelle am Schlachthof war ich bis 1961 und hab nach meiner Ausbildung die Kasse übernommen, dahin kam das meiste Bargeld. Montags brachten die Fleischer hohe Geldbeträge, die Tageseinnahmen, zur Gutschrift, abends musste alles stimmen. Ich hatte montags zwei Rentner als Geldzähler zur Hilfe: Geld zählen, Banderole darum, dann noch alles gebündelt. Dann wurde es von einem Auto abgeholt. Wenn wir kleine Beträge bis 50.000 Mark hatten, wurde alles in einen Koffer gepackt, mit der Straßenbahn bis zum Rossplatz in die Staatsbank gebracht. Also allein mit 50.000 Mark!

Wie funktionierte denn die Preisgestaltung in der DDR?
Die Preise waren Einheitspreise, ich konnte hier mein Brötchen für einen Fünfer holen, und egal in welcher anderen Stadt, das kostete fünf Pfennige. Und ein Stück Butter kostete eben überall zwei Mark fünfzig, das war viel Geld. Aber es war der Endverbraucherpreis, EVP nannte sich das, und der war einheitlich.

Wie war das in der Sparkasse, wenn Kunden Westgeld eingetauscht haben?
Das durften wir nicht machen, das musste generell bei der Staatsbank gemacht werden. Die Besucher aus dem Westen mussten bei Einreise Geld umtauschen und dann zur Polizei, um sich anzumelden. Die mussten sich ja auch noch in die Hausbücher eintragen.

Der Bau der Mauer 1961, wie hat der Ihr Arbeitsleben beeinflusst?
Die Menschen waren ja nichts anderes gewöhnt. Die wussten um den Vorteil von Westverwandten. Aber das Arbeitsklima, die Zusammenarbeit auch mit den Kunden war einfach vertrauensvoll und schön. Ich könnte nie sagen, dass da einer gedacht hat, ein anderer hat mehr und dem müsste man irgendwas wegnehmen oder antun oder kaputt machen. Das hat es nicht gegeben. Aber man hat natürlich gemerkt, dass die Kluft immer größer wurde zwischen Ost und West. Und so gab es diese Unzufriedenheit, es fehlte so vieles. Die Leute konnten ja auch ins sozialistische Ausland schauen, dass das Angebot viel besser war.

Ein Thema war die Stasi und man fragte sich auch: Wer wohnt in meinem Haus, wem kann ich vertrauen und wem nicht? Das hat die Menschen verunsichert, das schwelte und führte letztendlich natürlich auch dazu, dass Menschen 1989 im Herbst auf die Straßen gingen, friedlich zu den Montagsdemonstrationen. Es musste was geschehen.

Sind Sie bei den Montagsdemostationen dabei gewesen?
Ja, immer reihum mit meinen Mitarbeitern. Einmal bin ich selber gegangen und dann jede Woche ein anderer Mitarbeiter, so dass jeder das mal miterlebt hat und gefühlt hat, was dort los ist.

Und Ihre Arbeitgeber? Haben Sie mit denen deswegen Probleme gehabt?
Die haben sich da sehr bedeckt gehalten. Ich muss überhaupt sagen: Ich habe bei der Sparkasse auch keinen Zwang erlebt, in die SED einzutreten. Wir wurden gefragt, ja, und auch ich war bei meinem Direktor. Und da habe ich ihm gesagt: Herr K[…] Sie wissen doch, ich singe im Kirchenchor. So, gut, Haken dahinter und dann konnte ich wieder gehen.
In der Sparkasse hat mich nie jemand zu irgendetwas verpflichten wollen. Auch das war immer das Angenehme an der Arbeit

In der DDR gab es ja auch, politisch gesehen durchaus Umschwünge. Zum Beispiel gab es in den 1960er Jahren eine neue Wirtschaftspolitik, 1971 unter Honecker wieder zurückgezogen. Hatte das Einfluss auf Ihren Berufsalltag, auf Ihr Arbeitsleben?
Ich weiß, 1971 hat man ganz viel Selbstständigkeit zunichte gemacht. Kleine Unternehmen aus unserem Kundenkreis wurden staatlich. Das weiß ich noch. Einzelheiten leider nicht, nur dass diese Kunden sehr schwer darüber hinwegkamen.

In der DDR gab es vier Banksäulen: Sparkasse, die Staatsbank, Industrie-und Handelsbank und Deutsche Außenhandelsbank. Hatte die Sparkasse eine besondere Rolle in diesem System?
Die Sparkasse war federführend für Privatpersonen und kleine Betriebe bis zehn Mitarbeiter.
Allerdings hatte damals nicht jeder ein Konto wie heute.

Hat sich nach der Wende irgendetwas beruflich und privat für Sie geändert?
Nee. Bis 1998 blieb ich Leiterin der Geschäftsstelle. Und weil möglichst aus der Geschäftsstelle ein Abteilungsleiter für Produktmanagement mit Kundenkontakt gesucht wurde, habe ich dort noch bis 2000 gearbeitet und bin dann mit 60 in Rente gegangen.

Mit der Wende kam am 1. Juli 1990 auch der Währungsumtausch. Wie hat sich das gestaltet und wie war das für Sie?
Es war ein Sonntag, als die D-Mark eingeführt wurde. Es bedurfte langer, langer Vorbereitungen. Im Juni mussten die Kunden ihr Geld auf ein Sparkonto einzahlen. Girokonten hatten damals die wenigsten. Und so haben wir von früh bis abends Sparkonten angelegt. Dann waren die Sparkonten alle, da haben wir nur noch Einlegeblätter als Sparkonto herausgegeben. Ohne Sparkonto wurde das im Personalausweis aktenkundig. Das funktionierte über Anträge, der Geschäftsstellenleiter entschied.

Der Umtausch war gestaffelt: Bis zum Alter von 14 Jahren 2 000 Mark im Verhältnis 1:1, von 14 bis zum Rentenalter konnten 4 000 Mark 1:1 umgetauscht werden. Bei den über 60-Jährigen waren es 6 000 Mark, Guthaben darüber 2:1. Viele hatten mehr Geld, da wurden dann Konten für Enkel oder Bekannte angelegt und ihnen so eine Art Provision gegeben. Das Geld wurde nach dem offiziellen Umtausch dann bis auf eine DM abgehoben, und wir hatten die 1-DM-Konten noch jahrelang im Bestand.

Die Sparkasse hat also eine sehr große Rolle in der DDR eingenommen. Hat sich das dann mit der Wiedervereinigung geändert?
Ja, viele Banken kamen aus dem Westen, die Bayerische Vereinsbank war schon am Umtauschtag dabei, man brauchte Räume, um das Geld auszuzahlen, in Schulen und Betrieben, alles unter Bewachung.

Hatte sich denn der Alltag nach der Wiedervereinigung in der Sparkasse geändert oder blieb er im Grunde gleich?
Also es hat sich viel verändert. Es musste die ganze Verrechnung neu gemacht werden. Wir hatten ja früher Scheckverkehr gehabt, das kennt ihr alles gar nicht mehr. Im Laufe der Jahre hatten sich die Zahlungssysteme in Ost und West deutlich verändert. Zum Beispiel durch die Einführung der EDV, Geldautomaten usw. Diese ganzen Unterschiede mussten überwunden werden. Das war nicht einfach. Da haben wir auch unsere Zahlungsverkehrsabteilung, also die Experten, angefordert, die das alles ermöglicht hatten. Aber davon haben wir im Geschäftsstellenbereich nicht viel mitgekriegt. Wir hatten immer nur die Reklamationen von Kunden, weil durch die unterschiedlichen Zahlungssysteme das Geld oft so lange unterwegs war, dass die Kunden gesagt haben: Da musste was beglichen werden, ich habe eine Mahnung gekriegt, aber ich habe bezahlt. Das waren dann so die Dinge, die sich relativ lange hingezogen haben.

Intershops und Forumschecks als besondere Instrumente der DDR, um Devisen zu beschaffen: Können Sie schildern, wie das im Einzelnen ablief?
Wir hatten zu DDR-Zeiten sogenannte Delikat-Geschäfte. Dort wurde Westware angeboten. Im Delikat gab es zum Beispiel eine Dose Ananas für 13 Mark. Und im Intershop kostete die eine Mark, und das haben natürlich die Leute auch gesehen. Die waren informiert, was es dort gab, die kannten die Preise. Dass das nicht zur Zufriedenheit führte, kann man sich vorstellen. Man sieht es, die Wünsche sind da, und ich kann es nicht kaufen. Aber es sind ja nun auch viele Verwandte aus Westdeutschland zu Besuch gekommen. Die mussten einen bestimmten Geldbetrag umtauschen, sie haben immer vom Zwangsumtausch gesprochen. Kinder waren frei, aber jeder Erwachsene musste am Tag erst 20 und später dann 25 D-Mark in Mark der DDR tauschen. Und man kriegte von seinen Verwandten auch mal ein Scheinchen in die Hand gedrückt, war ja herrlich, und damit konnten wir im Intershop einkaufen. Aber dann wurde 1979 festgelegt, dass das Westgeld bei der Staatsbank abgegeben werden musste. Und dafür kriegte man Forumschecks in gleichem Wert. So konnte der Staat schnell an die Devisen der DDR-Bürger kommen.

Sie wirken wirklich sehr glücklich, dass Sie bei der Sparkasse waren?
Ich könnte mir kein schöneres Arbeitsleben vorstellen.

Wiedergefundene „Unsere Zwillinge vom Kalender 2021“

von Ursula Hein

Seit dem 1. Juni sehen Sie auf unserem Gohlis-Kalender zwei Mädchen mit ihren Puppenwagen. Mädchen, so wie man sie in den fünfziger Jahren in Ost und West finden konnte. Brav, lieb und schüchtern, zumindest die linke. Gleich gekleidet in dunklen Mäntelchen mit weißem Pelzkragen, Handschuhen, Strickstrümpfen und Schnürstiefelchen. Wir hielten sie für Zwillinge, jetzt wissen wir es aber genauer. Das rechte Mädchen, Annelie, ist im Juni 1947 geboren und das linke, Brigitte, erblickte im September 1948 genau in dem Haus das Licht der Welt, noch heute mit ihrem Mann lebt.
Ihre Tochter Christine hat die Mutti links auf dem Bild des bekannten Gohliser Fotografen Karl-Heinz Mai entdeckt, der mit den Eltern unserer beiden Mädchen gut bekannt war.

Letzte Woche trafen wir die jüngere Tochter, coronabedingt nur per Telefon, und konnten uns gut zwei Stunden mit ihr unterhalten.
Die Krochsiedlung hat der Bürgerverein ja ausführlich im Ortslexikon von 2017 vorgestellt, Geschichte und Architektur, Bürgerverein Gohlis und die Sanierung. Jetzt stellen wir eine Gohliserin mit ihren Erinnerungen vor.

Interview:
Wir fragen Brigitte Stock nach Kindheit und Jugend:
Bis zur Klasse 10 ging ich in die Schule, habe dann bei der Post eine Berufsausbildung mit Abitur gemacht. Danach bin ich in die Industrie gewechselt und habe im Metallgusswerk Leipzig in der Buchhaltung gearbeitet.
Zur Wende hatte der Betrieb etwa 3000 Beschäftigte und wurde dann in drei GmbH` s geteilt – Alugusss, Grauguss und Stahlguss. 2020 war dann endgültig Schluss – die Fa. Halbergguss wurde geschlossen

Wie sah Ihr Leben in der Krochsiedlung aus?
Der Viertelsweg war deutlich grüner als heute, die Krochsiedlung sehr gepflegt mit Hecken, ein Hausmeister sorgte für die Ordnung. Es gab viel Spielmöglichkeiten, wir spielten mit Kreisel, fuhren Roller zwischen den Häusern. Wenn ein Auto kam, was selten genug geschah, gingen wir eben auf die Seite. Spielplätze gab es beim Gartenverein, bis dort Ende der 50er Jahre Garagen gebaut wurden, aber in jeder Häuserzeile standen Bänke für die Mütter um die Sandkästen. Auch Trockenplätze für die Wäsche gab es dort, auch dort konnten wir spielen.
Im Winter gingen wir zum Schlittenfahren zum Heizhaus der Siedlung, dort war ein kleiner Berg, und im Sommer zum Schwimmen ins vorwiegend ins Wackerbad und als größere Kinder ins Stadion des Armeesportvereins. Übrigens gab es von der Schule Ferienspiele und später dort auch Schwimmlager in den Sommerferien aus immer Schwimmlager.
Ach ja, die Schule, die lag in der heutigen Hans-Oster-Straße, ehem. Jonny-Schehr-Straße, auf der Rückseite ist noch heute die Katholische Kirche. Eine Grundschule, die 59. – heute sind dort Luxuswohnungen. Unsere Tochter ging in den 70er Jahren in die Alfred-Frank-Schule. Der Enkel geht in den Kindergarten in Gohlis Süd und die Enkeltochter in die benachbarte Erich-Kästner-Schule.

Was gab es neben der Schule noch für ein Vereinsleben?
Da war die Kirchengemeinde, aber die Pioniere fand ich interessanter als die religiösen Gruppen. Die Pioniere haben viel unternommen. An den Kindertagen gab es für die Schule Sportfeste im Stadion des ASV. auch das Pionierhaus hat für die Kinder ein großes Angebot bereit. Später bei der FDJ war es dann doch langweiliger. In der Schulzeit der Tochter gab es auch gute Freizeitangebote im Pionierhaus.
Direkt an Vereine kann ich mich in meiner Schulzeit nicht erinnern, höchstens noch an die Kleingärten. Dort wurden dann auch Kinderfeste gefeiert. Manchmal gingen wir auch mit den Eltern dorthin und tranken dann unsere Brause.

Wie war es mit dem Einkaufen?
Bis zur Wende hatten wir hier viele Einkaufsmöglichkeiten. In den Pavillons gab es vielerlei Geschäfte, rechts von uns lag der Gemüseladen, dann ein Lädchen mit Kurzwaren, auch einen Fischladen, dann noch den Blumenladen, nach der anderen Seite hatten wir den schönen Milchladen, Man holte dort noch lange die Milch mit der Milchkanne. Man musste noch lange mit Lebensmittelmarken kaufen. Auch ein Frisör war dort, die Drogerie Schlesinger, ein Buchladen und eine Fleischerei. Zwischen den letzten beiden Blocks entstand dann ein großer Milchladen, wo man auch guten Käse kaufen konnte. geplant war auch eine Milchbar-ist aber nie realisiert worden. Der Milchladen wurde geschlossen. Stattdessen wurde durch Vietnamesen ein Gemüseladen aufgemacht Da habe ich immer sehr gerne eingekauft, leider schloss der auch wieder, ebenso der Fischladen. Vor allem, nachdem der Gohlispark `99 gebaut wurden, gab es so nach und nach keine kleinen Lädchen mehr.

Können Sie sich noch an Gaststätten erinnern?
Daran habe ich nicht so viele Erinnerungen. Unsere Eltern hatten nicht so viel Geld, um in Lokale zu gehen. Höchstens `mal in das Lokal des Kleingartenverein. In der Nähe war noch eine Gaststätte, da haben die Besitzer häufiger gewechselt, (Herr Stock konnte sich noch erinnern), einer hieß Koschke. Die Gaststätte als Raum gibt es noch – nach der „Sonnenblume“ wurde die Räumlichkeit von Afghanen übernommen. Heute gibt es allerdings in Richtung Gohlispark noch Geschäfte und kleine Restaurants.
Manchmal gingen wir mit Mutti in die Stadt, Das war dann ein richtiges kleines Fest. In der Hainstraße bekamen wir dann eine holländische Schnitte aus dem Café.

Welche Unterhaltungsmöglichkeiten bot Gohlis für seine Bewohner?
Ein Kino gab in der Coppistraße, eins in der Elsbethstraße, wo jetzt Aldi ist, sonst mussten wir bis Eutritzsch laufen oder in die Stadt. Anderes wie Konzerte gab es nur in der Stadt, oder es gab mal Veranstaltungen von der Schule her, aber da habe ich keine Erinnerungen daran.

Fazit:
Insgesamt bin ich aber zufrieden. Ich war immer arbeiten und habe sehr gerne gearbeitet, bis ich dann 2013 in Rente ging, dann allerdings war es mit der Gesundheit nicht mehr so gut. Ich musste an die Dialyse, zum Glück konnte ich Heimdialyse machen, aber 2019 bekam ich eine Nierentransplantation, und seit 2020 geht es mir wieder gut, so dass ich sogar wieder Sport machen kann, Leider jetzt nur eingeschränkt, aber da müssen wir halt auch noch durch, es wird schon wieder besser werde.

Vielen Dank für das Gespräch, hierdurch wird die Kroch-Siedlung mit echtem Leben erfüllt.

 

Geschichte in Geschichten (Teil 7) – Schüler fragen Zeitzeugen: Gisela Kallenbach

von Cosima Czekalla, Ida Heepe und Jonah Herzig

Gisela Kallenbach, geboren 1944 in Soldin/Neumark, ist aufgewachsen bei der tiefgläubigen Großmutter. Wegen verweigerter Jugendweihe wurde ihr das Abitur verwehrt. Nach der Lehre als Chemie-Laborantin war sie im Auftrag des VEB Mineralölwerk Lützkendorf als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften in Leipzig tätig. Das Fernstudium der Technologie der Chemie beendete sie als Diplomingenieurin, 1967 machte sie den Abschluss als Fachübersetzerin Englisch. 1969 bis 1990 war Gisela Kallenbach Laborleiterin und Themenleiterin (mit zwischenzeitlicher Unterbrechung wegen Geburt und Erziehung der drei Kinder). Seit 1982 Mitglied einer kirchlichen Arbeitsgruppe Umweltschutz gehörte sie ab 1984 zu den Mitgestaltern der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche. 1987-1989 beteiligt am Konziliaren Prozess der Kirchen der DDR. 1990 bis 2000 als Referentin im Dezernat Umweltschutz der Stadt Leipzig tätig, war sie von 2000 bis 2003 Internationale Bürgermeisterin der UN-Mission im Kosovo. 2004-2009 Europaabgeordnete in der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz und 2009-14 Abgeordnete im Sächsischen Landtag.

Warum haben Sie die Jugendweihe verweigert, obwohl Ihnen die Folgen – kein Abitur – klar waren?

Meine Oma Ida, eine tiefgläubige Frau, hat mich nach dem Tod meiner Mutter aufgezogen, ich bin mit Freuden zur Christenlehre gegangen, die Jugendweihe war für mich kein Thema. Die unbedingte Treue zum Staat und das Bekenntnis zur atheistischen Weltanschauung kam für mich nicht in Frage. – Meine Schwester durfte übrigens auch ohne Jugendweihe auf die Oberschule gehen. Nach der 10. Klasse habe ich dann eine Lehre als Chemielaborantin in Naumburg gemacht.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit Schule in der DDR?

Der ganze Unterricht war natürlich ideologisch besetzt. Man muss ja eine Botschaft nicht nur in Staatsbürgerkundeunterricht oder Ethik, sondern in allen Fächern verbreiten. Die Folge war, dass die allermeisten Eltern und ihre Kinder mit zwei Zungen gesprochen haben. Das heißt, sie haben zu Hause was Anderes erzählt als in der Schule.

Ab wann kam bei Ihnen dieser Wunsch zu Veränderungen am System der DDR?

Es gab immer mal so ein paar Grenzen: Wir durften ja nicht reisen. Ich hatte eine Großmutter in Westdeutschland. Ich durfte also auch die Großmutter nicht besuchen, nicht mal zur Beerdigung. Der Widerstand, der Wille zu Veränderungen, kam aber erst spät, eigentlich mit der Einschulung meines ältesten Sohnes, weil mir da so sehr bewusst wurde, wie der Staat Einfluss auf die Erziehung der Kinder nimmt, wir aber meinten, dass wir als Eltern entscheiden wollen, wie unsere Kinder erzogen werden.

Wie kamen Sie zum Umweltschutz?

In der Theorie war in der DDR alles großartig. Wir waren eine der höchstentwickelten Industrienationen, wir waren führend, wo immer auch nur denkbar – aber nur in der Theorie, in der Praxis wusste jeder zu erzählen: Mangel da, Mangel dort. Der ganze Südraum Leipzigs war durch den Braunkohletagebau total zerstört und ich dachte, Du hast drei Kinder, es geht um deren Zukunft, wenn wir die Erde so zerstören.

Auch als Christin habe ich mich verpflichtet gefühlt, die Schöpfung zu bewahren, sie nicht zu zerstören. Diese maßlose Zerstörung unserer Umwelt wollte ich einfach nicht hinnehmen. Ich habe mir dann gesagt: So, du hast die Leute, die das tun, aber gewählt. Du regst dich auf, hast sie gewählt, also hast du ja eigentlich gar keine Legitimation, Kritik üben zu können.“

Wie kam es dazu, dass Sie an den friedlichen Demonstrationen teilnahmen?

1981 sind wir nach Eutritzsch gezogen, Pfarrer Aribert Rothe aus der Michaeliskirche hat mich auf die Arbeitsgruppe Umweltschutz hingewiesen, dort trat ich zunächst als Referentin auf – inzwischen war ich ja Chemieingenieurin in der Forschung der Wasserwirtschaft – und seit 1982 dann als Mitglied. Wir waren natürlich nur ein loses Bündnis, haben in Kirchgemeinden informiert und Aktionen gestartet. So kamen wir dann mit den Gerechtigkeits- und Friedensgruppen 1989 zur Friedlichen Revolution.

Also sind Sie ja praktisch mit einem anderen Ziel angetreten?

Mein Hauptziel zu DDR-Zeiten war: Einhaltung der Gesetze. Die DDR hatte eine erstaunlich gute Umweltgesetzgebung, der Schutz von Natur war in der Verfassung festgeschrieben, aber die Gesetze wurden nicht eingehalten. Es gab Tausende von Ausnahmegenehmigungen.
Aber dann kam alles anders und das viel rascher als gedacht.

Was ist Ihre stärkste Erinnerung an die Friedliche Revolution?

Wir hatten eigentlich mit unserer Umweltgruppe im September 1989 eine Veranstaltungsreihe in der Reformierten Kirche ab dem 4. Oktober geplant. Und dann kam der 9. Oktober, den ich auch nie vergessen werde in meinem Leben. Alle hatten Angst, jetzt passiert was, jetzt greift der Staat ein. Es gab tausend Gerüchte über Panzer am Stadtrand, Krankenhäuser mit zusätzliche Blutkonserven. Selbst die Universität, die Schulen haben gewarnt: „Geht ja nicht ins Stadtzentrum!“ Die Geschäfte machten um fünf zu, um sechs Uhr war immer das Friedensgebet, am 9. Oktober gleichzeitig in vier Kirchen im Stadtzentrum. Die Nikolaikirche war ab Mittag um zwei schon voll besetzt.

Wir sind jetzt drei Gruppen gewesen und haben uns Gedanken gemacht, was wir gegen diese drohende Gefahr der Gewalt tun könnten und haben einen „Appell für Gewaltlosigkeit“ formuliert. Am 9. Oktober habe ich diesen Appell in der Stadt verteilt und an Wände geklebt – dafür konnte man damals in den Knast gehen. Entscheidend aber war, dass am 9. Oktober 70.000 bis 100.000 Menschen auf der Straße waren, und die haben uns davor gerettet, als Aktivistinnen verhaftet zu werden. Das konnte man nicht mehr machen.
Es war ein großartiges Erlebnis, dass an diesem 9. Oktober, dann alles friedlich abgegangen war, dass eben kein Schuss gefallen ist.

Am 16. Oktober, jetzt komme ich zu dem Punkt, dass wir eben Veranstaltungen in der Reformierten Kirche abhielten und da kann ich mich noch erinnern: An diesem Tag waren dann plötzlich wieder so viele Menschen auf der Straße. Und die kamen dann schon mit ersten Transparenten an. Dass wir das erleben, das war so unfassbar, so unvorstellbar. Jetzt passiert hier was, jetzt kommen hier Veränderungen! Da war diese Euphorie und nachher muss ich sagen, man konnte es immer wieder gar nicht fassen. Das Wort des Herbstes war „Wahnsinn!“, es hieß immer wieder „Wahnsinn!“.

Wie haben Sie den Tag des Mauerfalls erlebt?

Der 9. November, das war nochmal unfassbar. Für mich ein Gedenken an die Reichspogromnacht, wir sind von einem Gottesdienst in der Nikolaikirche dann mit Kerzen zu dem Gedenkstein gelaufen und als ich dann abends wieder zu Hause war, da haben die Nachbarn erzählt: „Jetzt dürfen die direkt in den Westen fahren“. Keiner hat es eigentlich richtig kapiert, die Öffnung der Mauer und der Grenzen, das war sowas von abwegig und unvorstellbar. „Was, da stehen die auf der Mauer?“ Sonst wurde geschossen, wenn sich jemand der Mauer näherte und versuchte, in den Westen zu gelangen, die sind kaltblütig erschossen worden. Das waren alles Erlebnisse, die sind nicht jeder Generation vergönnt.

Wie sehen Sie den Vereinigungsprozess heute?

Helmut Kohl hat mit seiner massiven Art den Wiedervereinigungsprozess durchgezogen, im passenden Zeitfenster. Ich war mir mit vielen Freunden eigentlich einig, dass wir es schaffen, schrittweise über einen gemeinsamen Beitritt zur Europäischen Union dann quasi ein geeintes Deutschland in einem geeinten Europa zu werden. Aber das war mit der Bevölkerung nicht zu machen, und das war spätestens am 18. März 1990 klar, als das Bündnis aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch [Bauernpartei stimmt nicht! – W. L.] fast die absolute Mehrheit gewann. Ich hätte mir einen längeren Prozess gewünscht.

Rückblickend, was hat die Wende aus Ihrer Sicht verändert?

Für mich persönlich begann mein zweites Leben. Ich habe ja noch mal alle Chancen dieser Welt bekommen. Ich konnte die Hälfte der Woche für das Bürgerkomitee arbeiten und nur noch zwei Tage im Institut. Und dann hieß es: „Jetzt können wir Verantwortung übernehmen.“ Dann hatten wir am 7. Mai 1990 wieder Kommunalwahlen. Ich bin angetreten, wurde gewählt, gehörte damit zu den Entscheidern. Als persönliche Referentin des Dezernenten für Umweltschutz und Sport begann ich im Leipziger Rathaus zu arbeiten und konnte nun plötzlich alles Mögliche mitbeeinflussen. Wir kannten natürlich westdeutsches Verwaltungshandeln überhaupt nicht, das war „learning by doing“. Wir hatten viele Begleiter dabei, aus unseren Partnerstädten Hannover und Frankfurt. Das kann ich nicht anders sagen, das war toll, wie die uns begleitet haben

Wie sehen Sie alles heute?

Ich bin auch heute überzeugt, dass viele Dinge gesellschaftlich verändert werden müssen: Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit, es gibt die Klima-Krise und vieles mehr. Ich bin sehr froh, all die Jahre schon in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat zu leben, aber vieles ist noch nicht eingelöst: Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung von Natur und Umwelt, globale Gerechtigkeit. Und deswegen finde ich, gibt es genügend Raum, noch weiter für bestimmte Ziele, bestimmte Ideale zu streiten, zu kämpfen, sich zu engagieren, und das werde ich sicherlich auch weiterhin tun.

Zum Ende hin würden wir Sie gerne fragen, was Sie in der DDR am meisten geprägt hat?

Die Ideologisierung hat bei den meisten Menschen keinen Widerstand erregt, jedoch bei mir schon. Wir waren so eine Art Notgemeinschaft. Mit Not meine ich jetzt nicht, dass wir etwa gehungert hätten oder dass wir in Sack und Asche gegangen wären. Wir haben auch in der DDR natürlich gelebt, geliebt, gelacht, Freunde gehabt, Geburtstage und Familienfeiern gefeiert und alles auch, was man so im Alltag und im Leben braucht, Konzerte besucht, Theater besucht und Literatur versucht sich zu besorgen und, und, und.

Wir hatten damals eine Mangelwirtschaft, der Tauschhandel blühte. Man hat sich gegenseitig sehr viel geholfen. Das gebe es heute viel weniger, höre ich immer wieder. Ich kann das persönlich nicht bestätigen, aber viele klagen, die Ellenbogengesellschaft habe ein mehr egoistisches Herangehen hervorgebracht. Und sie hätten auch Freunde verloren. Es könnte durchaus sein, dass da manches vielleicht heute nicht mehr so ausgeprägt ist, wie es damals zu DDR-Zeiten war.

[Gekürzt und redaktionell bearbeitet Ursula Hein]

Geschichte in Geschichten (Teil 5) – Schüler fragen Zeitzeugen: Matthias und Uta Schreiber

von Gabriela Lewandowski, Lina Edel und Philipp Harazin

Matthias Schreiber (Jahrgang 1958) ist seit 1981 Cellist im Gewandhausorchester, sah auf Tourneen mehr von der Welt als die meisten DDR-Bürger. Im Herbst 1989 beteiligte er sich, abwechselnd mit seiner Frau, an den Leipziger Montagsdemos. Weil er als Schüler nicht in der Jugendorganisation FDJ war, bekam er keine Zulassung zum Abitur. Dennoch konnte er in Leipzig Musik studieren. Seine Ehefrau Uta Schreiber (Jahrgang 1963), war als Kind Mitglied der Jungen Pioniere und später auch der FDJ. Zugleich engagierte sie sich in der Jungen Gemeinde. Nach dem Abitur studierte sie in Weimar Musik und ist gegenwärtig als freiberufliche Musikerin tätig.

Sie sind mit dem Gewandhausorchester auch im Westen aufgetreten. Gab es ein Konzert, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Herr Schreiber:
In meiner ersten Spielzeit vom August 1981 bis zum Juli 1982 war ich mit der Leipziger Oper zum Gastspiel in Madrid. Üblicherweise durften die Musiker damals in ihrer ersten Saison noch nicht mit auf Westreisen. Aber es ergab sich, dass damals das Gewandhausorchester eine Konzertreise hatte und parallel dazu auch die Oper. Es fehlten also Musiker, und deshalb konnte ich mitfahren. Das war wunderbar: eine Woche mit der Oper in Madrid! Wir fühlten uns wie in einer anderen Welt. Es war dort alles irgendwie bunter, und die Menschen waren locker, wie die Südländer eben sind. Wir haben auch Spätvorstellungen gegeben, mit Opern, die sehr lange dauerten, wie Wagners „Meistersänger“. Danach konnten wir nachts bis um drei in die Gaststätten gehen und draußen auf der Straße sitzen. Das alles kannten wir von zu Hause nicht. Da war es grau und trist, die Luft war dreckig und an den Häusern blätterte der Putz ab.

Klar, waren ein oder zwei Offizielle von der Stadt mit dabei, und ein paar Stasileute unter den Kollegen auch, aber wir konnten uns dort uneingeschränkt frei bewegen, wann und wie wir wollten. Während der Bahn- und Busfahrten konnten wir den „Spiegel“ lesen, das hat niemanden interessiert, auch von den Begleitpersonen nicht. Das war im Rundfunkorchester ganz anders, wie ich von einem Musikerkollegen weiß, der dort mal mit auf Tournee war. Dem wurde klargemacht, dass Westzeitschriften nicht erlaubt sind. Der DDR-Rundfunk war als staatliche Institution eben viel mehr kontrolliert als wir im Gewandhausorchester.

Zurück zu Ihrer Schulzeit. Sie wurden nicht zum Abitur zugelassen, weil Sie nicht in der FDJ waren. Wie kam es eigentlich dazu?

Herr Schreiber:
Mein Vater war Pfarrer und ich bin in einem kirchlichen Haushalt großgeworden. Meine älteren Brüder waren auch nicht bei den Pionieren und nicht in der FDJ. Da war das für mich irgendwie folgerichtig. Aber man war auch so bissel stolz drauf, dass man da nicht drin war. Dass Nachteile damit verbunden sind, das hat man dann später bemerkt. Das betraf auch nicht alle gleichermaßen. Mein ältester Bruder durfte auf die Oberschule gehen und Abitur machen, obwohl er nicht in der FDJ war. Das war alles sehr willkürlich. Verletzend war eigentlich nur, dass da Leute zum Abitur zugelassen wurden, die deutlich schlechter in der Schule waren als ich, die sich aber für drei Jahre zur Armee verpflichtet haben und über diese Schiene zum Abitur gekommen sind. Das empfand ich als große Ungerechtigkeit. Wir waren eine kleine Gruppe von drei oder vier Schülern in der Klasse, die nicht in der FDJ waren.

Und alle anderen konnten dann das Abitur machen?

Herr Schreiber:
Nein. Das muss man vielleicht erklären. Es gab die Zehn-Klassen-Schule, das war die normale Schule. Und dann gab es die Erweiterte Oberschule, da konnte man Abitur machen. Da ist man dann in der neunten Klasse hingegangen. Dort gab es eine begrenzte Platzanzahl. Also nicht jeder, der etwa den entsprechenden Notendurchschnitt hatte, konnte Abitur machen. Dafür musste man sich bewerben. Da wurde ausgewählt, zum Teil nach der sozialen Herkunft der Eltern. Denn der Staat hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, die Arbeiterklasse besonders zu fördern. Also wurden Arbeiterkinder bevorzugt. Das war auch der Grund der Ablehnung bei mir. Und das haben sie auch so geschrieben.

Frau Schreiber:
Es ging aber auch danach, was in der Wirtschaft gebraucht wurde. Nicht so wie heute, wo jeder die freie Berufswahl hat, damals ging es darum, was gebraucht wurde, das wurde ausgebildet. In der DDR waren es nur ungefähr 10 % eines Schülerjahrgangs, die Abitur gemacht haben.

Sie konnten, anders als Ihr Mann, das Abitur ablegen.
Frau Schreiber:
Mein Mann hatte als Schüler Rückhalt von seinen Eltern, und dann waren in seiner Klasse auch andere nicht in der FDJ, und er wurde relativ in Ruhe gelassen. In meiner Schule wäre das jeden Tag ein Spießrutenlauf gewesen. Das hätte ich nicht ausgehalten. Also war ich bei den Pionieren und in der FDJ. Alles hing sehr davon ab, an wen man geriet und mit wem man gerade zusammen war. Ich bin in Döbeln in die Schule gegangen, das ist liegt in Richtung Dresden, da gab es nie Westfernsehen. Und dort war der Kreisschulrat ein ganz scharfer Hund.

Herr Schreiber:
Die Lehrer, die ich hatte, waren sehr verschieden. Manche haben viel Wert darauf gelegt, dass alles ideologisch richtig ist. Aber wir hatten auch einen ganz tollen Deutschlehrer. Da gab es schon Freiräume. Es war nicht alles so schwarz-weiß, wie es heute manchmal erscheint. Da kam sehr viel auf die Persönlichkeit der Lehrer an.

Wussten Sie damals, als Sie nicht zum Abitur zugelassen wurden, schon, dass sie Musiker werden wollen? Oder ist das dann erst später gekommen?

Herr Schreiber:
Das kam erst später. Ich hatte zunächst eine andere Berufsvorstellung. Ich hatte auch eine Lehrstelle. Das war damals anders als heute. Es gab in dem Kreis, in dem man wohnte, eine bestimmte Zahl an Lehrberufen, und wenn da nichts dabei war, was einem gefiel, dann hatte man Pech und musste trotzdem irgendwas davon machen. Es war undenkbar, dass man sagte: Ich mache erstmal gar nichts. Oder ein Auslandsjahr, das sowieso nicht. Oder ich ziehe irgendwohin und nehme mir eine Wohnung, weil es dort eine Lehrstelle gibt, die mir vielleicht gefällt. Das war undenkbar, es gab ja auch keine Wohnung. Also, ich hatte eine Lehrstelle, das hat mich auch interessiert, so Elektronikkram, also, was damals so Elektronik war. Ich habe die Lehre aber dann nicht angetreten. Wir haben zu Hause viel Musik gemacht, und mein ältester Bruder hat auch Musik studiert. Und ich hab dann einfach ordentlich geübt und es war wohl ausreichend. Jedenfalls dafür, dass ich meine Aufnahmeprüfung geschafft habe.

Eigentlich brauchte man doch das Abitur, um zu studieren. Und Sie hatten keins.

Herr Schreiber:
Das Abitur ist grundsätzlich die Voraussetzung. Zu Kunststudiengängen, also Musik, Malerei, Grafik, Fotografie usw. kann man aber auch ohne Abitur zugelassen werden. Das ist auch heute noch so.

Frau Schreiber:
Es gibt eine Klausel, dass man auf Grund besonderer Begabung auch ohne Abitur studieren kann. Früher war das bei den Musikstudenten in der DDR gar nicht so selten. Viele waren zuvor auf einer Spezialschule. Das war so ein Aussieben der Talente schon in der Kindheit, ähnlich wie in den Sportschulen. Eine andere Variante war, dass man bis zur zehnten Klasse in die Schule ging und sich dann für ein Musikstudium bewarb. Wenn man gut genug war, bekam man ein Vorstudienjahr. Das heißt, man war schon an der Hochschule, wenn auch noch kein richtiger Student. Man hatte noch ein bisschen Schulunterricht in zwei oder drei Fächern. Der Rest waren schon vorbereitende Fächer fürs Studium. Danach kam man dann ins erste Studienjahr.

Eine Frage zum Herbst 1989. Sie haben sich damals an den Montagsdemos beteiligt. Woran erinnern Sie sich?

Herr Schreiber:
Meine Frau und ich, wir sind abwechselnd zu den Montagsdemonstrationen gegangen. Damit immer einer für die Kinder da ist. Man wusste ja am Anfang nicht, wie es ausgeht, ob man wieder heimkommt. Am 9. Oktober gab es viele Gerüchte. Dass unheimlich viel Bereitschaftspolizei und Panzer zusammengezogen wurden, dass man in den Krankenhäusern zusätzliche Blutkonserven bereitgestellt hätte, dass sich Ärzte auf Schussverletzungen vorbereiten sollten. Und alles solche Sachen. Das war schon beängstigend.

Können Sie sich erklären, warum die Sicherheitsorgane dann doch nicht zugeschlagen haben?

Frau Schreiber:
Ich denke, da kam vieles zusammen. Da gab es ja namhafte Leute, die sich mit ihrer Person gegen ein gewaltsames Vorgehen gestellt haben. Der Aufruf der Leipziger Sechs, der über den Stadtfunk verbreitet wurde. Ganz wichtig war, dass sich die Demonstranten nicht zu irgendwelchen Gewalttaten hinreißen ließen. Die waren ja vorher in den Kirchen gewesen, bei den Friedensgebeten wurden sie eingestimmt darauf. Gegen die Friedfertigkeit, die von den Demonstranten ausging, waren Polizei und Armee irgendwie machtlos. Das war eine Erfahrung, die mir immer noch eine Gänsehaut macht.

Welche Veränderungen haben Sie sich damals am meisten gewünscht?

Frau Schreiber:
Mir war ganz wichtig, frei zu entscheiden, wie ich leben möchte und wo ich leben möchte. Reisen zu können. Zu entscheiden, wen ich treffen und welche Bücher ich lesen möchte. Dass ich mich nicht mehr belügen lassen muss und dass ich mir die Zeitung aussuchen kann, die ich lesen will.

Herr Schreiber:
Ich habe gehofft, dass die Umweltsituation deutlich besser wird. Dort, wo ihr heute baden geht, waren ja damals Braunkohlentagebaue. Und die Kraftwerke hatten noch keine modernen Filteranlagen. Auch die Chemieindustrie in Bitterfeld und in Leuna war alles andere als sauber.

Frau Schreiber:
Zu Hause haben alle Leute mit Kohle geheizt. Ab Oktober zog dieser Kohlenrauchgeruch durch die Straßen. Von diesen ekelhaften schwefelhaltigen Kohlen. Smog, unentwegt Smog, den ganzen Winter durch…

Ist nach der Wende alles Wirklichkeit geworden, was Sie sich erhofft hatten?

Frau Schreiber:
Ich habe nicht erwartet, dass jetzt die immerwährende Glückseligkeit eintreten würde. Es gab verpasste Chancen, viele Menschen sind auf der Strecke geblieben, und um die hat sich niemand gekümmert. Viele im Osten mussten sich komplett umorientieren, verloren ihre Arbeit und hatten das Gefühl, das liegt daran, dass sie nichts taugen, dass sie nicht gut genug sind. Damals kamen ja viele Glücksritter in den Osten, die hier ihren Reibach gemacht haben. Die haben Immobilien aufgekauft. Und Firmen, die sie dann platt gemacht haben. Nachdem die Fördergelder einkassiert waren, flogen die Beschäftigten auf die Straße. Das hat nicht zur Überwindung der Spaltung zwischen Ost und West beigetragen.

Herr Schreiber:
Statistiken sagen, dass es bis heute zwischen West und Ost ein Lohngefälle gibt, ein Rentengefälle, ein Wohlstandsgefälle. Dabei muss ich sagen: Uns geht es wirklich gut. Das können nicht alle von sich sagen. Es liegt ja auch nicht immer an einem selbst. Wir haben einfach Glück gehabt, mit dem Beruf, auch mit dem großen Orchester, dass das weiterbesteht. Viele kleine Orchester wurden nach der Wende aufgelöst, da sieht es ganz anders aus.

Frau Schreiber:
Es gibt in jedem System Probleme. Aber im Grunde genommen bin ich froh und dankbar, dass wir in einem System leben, so wie es jetzt ist. Vor allen Dingen hat man das Gefühl, man kann was machen. Und es gibt Wege, irgendwie zum Besseren zu kommen. In der DDR hattest du da nicht sehr viele Möglichkeiten.

(gekürzt und redaktionell bearbeitet von Wolfgang Leyn)

Geschichte in Geschichten (Teil 4) – Schüler fragen Zeitzeugen: Dr. Karl Heinz Hagen

Von Valentina Michel, Alena Ackermann und Sophie Schmeiduch (Bearbeitet und gekürzt durch Ursula Hein und Wolfgang Leyn)

Dr. Karl Heinz Hagen, Jahrgang 1954, absolvierte 1973-77 bei Carl Zeiss Jena eine Berufsausbildung mit Abitur. Nach dem Pädagogik-Studium war er bis 1985 Lehrer für Geschichte und Deutsch an der 10-klassigen Polytechnischen Oberschule „Friedrich Schiller“ in Gohlis, der Turmschule. 1989 folgte die Promotion an der Uni Leipzig. 1990 wurde er vom Kollegium der Schillerschule zum Schulleiter gewählt. Gemeinsam mit Schülern und Eltern entwickelte er das Konzept eines allgemeinbildenden Gymnasiums mit beruflicher Orientierung. Doch Sachsen übernahm das gegliederte Schulsystem nach dem Vorbild Bayerns und Baden-Württembergs, das Thema war damit erledigt. 1992 wechselte er als Lehrer und Oberstufenberater ans Humboldtgymnasium, organisierte dort die ersten Schülerfirmen in Sachsen. 1995-2010 war er Referent am Sächsischen Institut für Lehrerfortbildung in Meißen-Siebeneichen, seit 2006 auch Lehrer am Beruflichen Gymnasium. Zur Zeit der Wende lebte er mit Frau und drei Kindern in Leipzig.

Gibt es etwas, das typisch für die Erziehung der Kinder in der DDR war oder für Ihr Leben als Kind oder Jugendlicher?

Typisch war, dass wir eigentlich in der gesamten Schulzeit in eine Organisation eingebunden waren. Erst die Jungpioniere und später der Jugendverband FDJ. Die waren straff organisiert, mit Uniformen und Fahnen. Das haben wir als normal betrachtet und nicht groß darüber nachgedacht. Natürlich sind wir damit in gewisser Weise beeinflusst, ja sogar vereinnahmt worden. Andererseits hatte ich eine sehr glückliche Kindheit.

Unter welchen Verhältnissen sind Sie aufgewachsen?

Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wir hatten den Wald vor der Haustür. Ich hatte einen großen Freundeskreis. Kinder waren damals unbeschwerter unterwegs, die Eltern hatten auch nicht so eine Angst um sie. Wenn wir mal mit einem aufgeschlagenen Knie nach Hause kamen, rannte niemand zum Anwalt, damit derjenige, der das Loch in der Straße zu verantworten hat, dafür bezahlen muss. Da kriegte man paar hinter die Ohren: Pass beim nächsten Mal besser auf. Das Leben der Menschen war damals von mehr Zusammenhalt geprägt. Das war aber auch dem Mangel geschuldet. Jeder hatte irgendwas, das man nicht ohne weiteres kriegte. Der eine hatte Holz, der andere hat selbst geschlachtet, das war auf dem Land so. Da hat man dann getauscht, hat sich auch gegenseitig geholfen.

Sind Ihre Träume und Ziele von damals vergleichbar mit denen der jetzt 20- oder 30-Jährigen?

Ich denke, wir waren in der gleichen Weise verrückt wie die heute 20-Jährigen, wir hatten nur andere Bedingungen. Bei uns gab es noch kein Internet, keine Handys. Wir hatten Freundinnen, Freunde. Wir haben uns nach der Schule verabredet, waren zusammen beim Jugendtanz. Was wir damals nicht hatten, das waren diese Reisemöglichkeiten, wie sie heute zum Beispiel meine Enkeltöchter haben. Wo die überall schon waren mit ihren neun bzw. viereinhalb Jahren! Aber ich frage mich manchmal, was für sie noch ein erstrebenswertes Ziel sein wird, wenn sie 20 … 25 Jahre alt sind, als Studenten. Wenn ich hätte reisen können, hätte ich das vielleicht auch gewollt. Aber das war für uns kein Thema. Ich habe an der Grenze im Sperrgebiet gewohnt. Am Zaun war die Welt zu Ende. Basta!

Würden Sie sagen, dass die Mauer heute noch in den Köpfen existiert?

Je nachdem. Die Leute haben ja ganz Verschiedenes erlebt. Manche haben überhaupt nicht verstanden, was da passiert ist. 1989 war ich 35 Jahre alt und hatte an der Uni promoviert, dann ist über Nacht alles umgekippt. Was bisher unten war, ist auf einmal oben, und du musst dich neu orientieren. Da gab’s Leute, denen ist das relativ leicht gefallen, die gingen damals über Österreich in den Westen. Manche haben sogar ihre Kinder zurückgelassen. Andere kamen mit der Entwicklung überhaupt nicht klar und sind in Depressionen verfallen. Wieder andere haben völlig euphorisch „Helmut, Helmut!“ gerufen, denen konnte es mit der Einheit gar nicht schnell genug gehen. Die Mauer in den Köpfen, die gibt es bis heute, nicht nur bei den Ostdeutschen. Wenn man in Bayern oder in Österreich mit Einheimischen zusammensitzt und ins Gespräch kommt, da staunt man, wie wenig die wissen von dem, was im Osten passiert ist. Für viele Wessis hatte man hier den Slogan: „Jung, dynamisch, erfolglos“. Eine anderer böser Spruch war: „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist das anders rum.“ Andererseits galten wir als „Jammer-Ossis“. Ich sehe die Chance, diese Vorurteile zu überwinden bei eurer Generation und der Generation meiner Kinder – ich habe selber drei erwachsene Kinder – und ich sehe, wie entspannt, wie ganz anders sie an manche Sachen herangehen. Aber ich sehe auch die Verantwortung, sich mit der Geschichte zu beschäftigen.

Zurück zu zwei Daten, dem 9. Oktober 1989 und dem 9. November. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich sage ganz ehrlich, ich habe nicht zu den mutigen Männern und Frauen gehört, die über den Ring marschiert sind, mit dem Ziel, diese DDR zu beseitigen. Ich war zu der Zeit verheiratet, hatte drei Kinder und hatte erlebt, wie die Staatssicherheit über den Lebensgefährten meiner Mutter zugegriffen hatte. Uns war nicht klar, wie der 9. Oktober ausgehen würde. Es war ein großes Glück, dass Kurt Masur und die anderen fünf, darunter der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, sich mit der Bitte an die Bevölkerung gewandt haben, die Situation nicht in Gewalt ausarten zu lassen. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Es ist bis heute ungeklärt, ob es einen Schießbefehl wirklich gegeben hat. Ich kam gegen 17 Uhr aus der Uni, da standen Autos von der Kampfgruppe und von der Armee. Die Straßenbahngleise am Augustusplatz, dem damaligen Karl-Marx-Platz, waren schon gesperrt, man musste also drüben bei der Hauptpost einsteigen. Ich hatte große Sorge, ich musste meinen Jüngsten aus der Kinderkrippe abholen. Da kamen dann Autos gefahren mit Leuten von der Staatssicherheit, die hatten Maschinenpistolen zwischen den Knien. Ich hab meinen Sohn abgeholt, wir sind nach Hause gefahren und haben gewartet, was passiert.

Der neunte November, damit hat man echt nicht gerechnet. Das war ein Versprecher von Schabowski, der einfach eine Meldung falsch interpretiert hat. Die Frage hieß: „Ab wann gilt diese Öffnung?“ und er sagte: „Ich meine, ab jetzt“. Damit war dann natürlich die Grenze offen. Kurz darauf setzte dieser Run auf das Begrüßungsgeld ein. Die Züge waren überfüllt. Meine Frau hat das einmal mitgemacht, das hat unser Jüngster fast nicht überlebt, die Leute im Zug hätten ihn beinahe zerquetscht. Zu diesem Zeitpunkt stand die Frage der deutschen Einheit noch nicht auf der Tagesordnung. Das passierte erst im Dezember 1989. Da hat dann Helmut Kohl in Dresden seine Rede gehalten, hat sein Zehn-Punkte-Programm aufgelegt und da kam dann konkret die Forderung, die beiden deutschen Staaten zu vereinigen.

Bei der großen Demonstration am 4. November 1989 in Berlin, wo auch viele Künstler gesprochen haben, ging es den meisten darum, so wie mir auch, im Sinne von Gorbatschows Perestroika diesen Staat DDR zu reformieren. Dann haben wir 1990 durch Gorbatschow diese Chance bekommen: die Einheit zum Nulltarif. Die Russen haben ihre Soldaten bis 1994 komplett abgezogen. Das war mit Kohl ausgehandelt, und Gorbatschow hat sich daran gehalten.

Welche Auswirkungen hatten Mauerfall und Einheit für Sie und Ihre Familie?

Mein Vater war damals 63. Als Meister im Zeiss-Werk war er für zehn, fünfzehn Leute verantwortlich. 1991 kam er eines Tages in die Spätschicht und man sagte ihm: „Das ist heute deine letzte Schicht, ab morgen brauchst du nicht mehr zu kommen.“ Nach 42 Arbeitsjahren. Der kam abends mit seinem Bündel nach Hause und hat ein halbes Jahr gebraucht, sich wieder zu sortieren. Meine Schwester war Zahntechnikerin in einem Krankenhaus. Das Labor wurde von einem Wessi gekauft, und als erstes wurden danach alle Frauen rausgeschmissen.

Meine Frau hat sich vor allem um die Familie gekümmert. Aber ich hatte den Ehrgeiz, mich als Schulleiter einzubringen, den Unterricht neu zu konzipieren, das Schulgebäude zu verändern. 1990 war das einzige Mal, dass in Thüringen und Sachsen ein Schulkollegium seinen Schulleiter wählen konnte, und ich bekam über 80% der Stimmen. Dann gab es 1992 eine Ausschreibung für die neuen Schulleiterstellen, weil in Sachsen die Schularten so wie in Bayern und Baden-Württemberg installiert worden sind. Damit war ich draußen und musste mich ganz neu bewerben. Nach dieser „Klatsche“ lag ich ein halbes Jahr am Boden. Da musst du dir überlegen, stehst du wieder auf und es geht weiter oder verfällst du in Selbstmitleid und ziehst dich zurück.

Würden Sie das heutige Schulsystem oder das von früher als erfolgversprechender bezeichnen?

Meine größte Erwartung war eigentlich, dass mit der Wende das Bildungssystem in ganz Deutschland verändert wird. Ich war sehr enttäuscht, dass aus dieser einmaligen Chance so wenig gemacht wurde. Beide Bildungssysteme hatten Vor- und Nachteile. Man hat leider nicht versucht, abzuwägen, was man hätte aus beiden Systemen machen können. Das DDR-System war ideologisch völlig überfrachtet und so wie es war, nicht erhaltenswert. Beim heutigen System sehe ich als entscheidenden Nachteil, dass die Entscheidung über die weiterführende Schulart nach der 4. Klasse zu früh ist. Ich glaube, mit 13 oder 14 Jahren weiß man das besser. Ihr habt natürlich am Gymnasium ab Klasse 5 ein anderes Anspruchsniveau. Andererseits habe ich auch erlebt, dass Kinder ins Gymnasium hineingeschoben wurden und dann nach der 7. Klasse abgegangen sind. An der Mittelschule galten sie dann als Loser, die das Gymnasium nicht geschafft haben. Es braucht schon für das Gymnasium eine große Leistungsvoraussetzung, Willensstärke und auch Unterstützung, damit sich ein Kind in dem Alter ordentlich etablieren kann. Ich fand die naturwissenschaftliche Ausbildung in der Breite früher besser. Heute ist in den Lehrplänen meines Erachtens zu viel Spezialwissen drin. Meine Hoffnung wäre gewesen, diese solide naturwissenschaftliche Ausbildung zu kombinieren mit Kurssystem und Wahlmöglichkeiten.

Wie haben Sie als Geschichtslehrer sich auf die neuen Anforderungen eingestellt?

Das war ganz einfach und zugleich schwierig. Einfach insofern, als es jetzt eine große Anzahl von Schulbuchverlagen gab, die uns regelrecht überschüttet haben mit ihrem Angebot an Unterrichtsmaterialien. Wenn man halbwegs interessiert war und sich gekümmert hat, dann hatte man jetzt Möglichkeiten, sich einzubringen. Damals habe ich nebenher nochmal angefangen zu studieren. Das, was wir früher gelernt hatten, war ja im Schwerpunkt DDR-Geschichte mit der Arbeiterbewegung, Marx, Lenin usw., aber zum Beispiel die Französische Revolution wurde nur gestreift. Allerdings hatten wir gelernt, ordentlich wissenschaftlich zu arbeiten. Dann habe ich mich also in die Deutsche Bücherei gehockt und neben meinem Unterricht gelesen, gelesen, gelesen. Ich habe nochmal ein gesamtes Studium für mich durchgezogen, und als ich dann am Humboldtgymnasium war und Leistungskurse hatte, da war man richtig gefordert. Ich habe von niemandem mehr verlangt als von mir selbst. Den Schülern muss man günstige Rahmenbedingungen schaffen, muss ihnen etwas zutrauen und sie laufen lassen. Genauso wie bei unseren Schülerfirmen: Wir hatten ein Schüler-Café, ein Reisebüro, einen Schreibwarenladen. Die Schüler haben gearbeitet, sie waren Sonnabend früh da, ohne dass sie gezwungen wurden. Mit dem Reisebüro haben sie sich ihre Kursfahrt verdient.

 

Geschichte in Geschichten (Teil 5) – Schüler fragen Zeitzeugen: Ludmila Adelheid Scholz

von Frederik van Suntum, Mathilda Uhlmann, Juliana Henke (Bearbeitet und gekürzt durch Ursula Hein und Wolfgang Leyn)

Im Heft 5 des letzten Jahres und auf unserer Homepage wurde das Projekt „Schüler fragen Zeitzeugen“ der AG Stadtteilgeschichte ausführlich vorgestellt. In Zusammenarbeit mit dem Friedrich-Schiller-Gymnasium entstanden im Rahmen des Geschichtsunterrichtes der 10. Klassen spannende Gespräche mit verschiedenen Zeit-zeug*innen der Friedlichen Revolution in Leipzig. Lesen Sie nun auf den folgenden Seiten zwei weitere der insgesamt neun Interviews. Hier im Text redaktionell betreut und gekürzt, wird das gesamte Interview dann auf unserer Homepage zu lesen sein.

Vielleicht haben Sie uns auch – aus Ihrer Erinnerung – noch etwas zu erzählen über die aufregenden Zeiten 1989/90. Wir freuen uns auf Ihre Leserbriefe.

Adelheid Scholz wurde 1944 in Tetschen (heute Děčín/Tschechien) geboren. Als 7-Jährige kam sie mit ihrer Familie nach Leipzig. Seit 1970 lebt sie im Stadtteil Gohlis. Nach dem Studium der Theater- und Kulturwissenschaften an der Leipziger Universität begann sie 1967 ihre Tätigkeit als Hörfunkjournalistin beim Sender Leipzig in der Springerstraße. Ihre fachlichen Schwerpunkte waren Bauen und Umwelt, seit 1984 moderierte sie dazu auch Live-Sendungen. Ab Dezember 1989 berichtete vom Runden Tisch in Leipzig. Seit Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks 1992 arbeitete sie als Redakteurin bei MDR Kultur.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie Journalistin im Hörfunk wurden?

Ich habe an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Kultur- und Theaterwissenschaften studiert. Journalistik wäre mir nie in den Sinn gekommen. Aber dann kam eines Tages eine Kommission an die Uni, die suchte Nachwuchs für den DDR-Rundfunk und fragte unseren Institutsdirektor: „Haben Sie nicht jemanden mit guter Sprache, guter Stimme und nicht gerade auf den Kopf gefallen?“. Und er hat mich vorgeschlagen. Auf diese Weise bin ich zu diesem Beruf gekommen. Während der letzten zwei Jahre des Studiums machte ich Praktika beim Sender Weimar und bekam dort einen Vorvertrag als Kulturjournalistin. Aber meine Liebe lebte in Leipzig, deswegen wollte ich nicht nach Weimar. Der Kompromiss war dann eine Stelle in der Nachrichtenredaktion am Sender Leipzig. Das Nachrichtenschreiben war eine gute Schule, weil man lernte, einen Gegenstand kurz und knapp zu schildern. Am Sender habe ich mich sehr wohlgefühlt. Wir waren dort eine relativ kleine Gruppe von Journalisten. Dadurch, dass wir sehr viele Themen zu bearbeiten hatten, war die Tätigkeit sehr abwechslungsreich.

Haben Sie sich Umwelt und Bauen als fachliche Schwerpunkte selber gesucht? Oder waren die einfach noch frei?

Am Sender gab es damals schon fünf Kulturredakteure, eine Journalistin in der Abteilung Musik, und vier beim Wort. Da hab ich mir dann gesagt „Du machst das, wozu keiner Lust hat, was aber die Leute interessiert.“ Das waren Bauen und Umwelt. Umwelt war zu DDR-Zeiten ein sehr heißes Eisen. Das hätte sich sonst niemand getraut, muss ich ehrlich sagen. Ich war im letzten Studienjahr Kandidatin der SED geworden. Da hatte man mich immer wieder liebevoll agitiert. Ich fand es auch gar nicht schlecht, weil wir einen Parteisekretär hatten, der einen sehr begeistern konnte. Dann im Sender Leipzig wurde mir klar: Von einem Mann kann ich mich scheiden lassen, von der Partei nicht. Also sagte ich: „Nein, ich stelle keinen Aufnahmeantrag. Mein Freund will das nicht“, was damals auch stimmte. Daraufhin wurde ich ein ganzes Jahr lang jeden Monat vom Parteisekretär des Senders zu einem einstündigen Gespräch geladen, was meinerseits fast immer mit Tränen endete, doch ich habe mir gesagt „Du hältst durch“. Die hatten sich eingebildet, wegen meiner Kontakte in die Tschechoslowakei, ich konnte ja auch tschechisch, hätten mich die Ideen des Prager Frühlings angesteckt. Der hat mich natürlich interessiert, das musste ich denen aber nicht sagen. Schließlich hat mich die Direktorin, die ich sehr schätze, zu einem langen Gespräch eingeladen. Dabei sagte sie mir, sie habe von der Partei-Kontrollkommission im Bezirk den Auftrag, mir fristlos kündigen. Doch sie wolle für mich bürgen. Also wurde mir nicht gekündigt.

Konnten Sie durch Ihre Arbeit beim Thema Umweltverschmutzung Dinge aufdecken?

Ab 1984 ja. Damals lernte ich eine Stadtverordnete kennen, Frau Doktor Kasek. Sie hatte die erste Umweltgruppe in Leipzig gegründet. Meine Chefin hatte mich zu ihr aufgrund einer kleinen Zeitungsnotiz geschickt. Sie konnte gut argumentieren und hatte Zugang zu Daten – sie war Pharmazeutin – also zum Beispiel, wie viel Schwefel regnet auf Leipzig runter? Wie viel Staub? Das stand ja nirgends. Darüber wurde offiziell nicht berichtet. Oder die Verschmutzung der Flüsse. Und wir haben dazu regelmäßig Live-Sendungen gemacht. Die hießen zuerst „Ratgeber Umwelt“. Weil es aber beim Norddeutschen Rundfunk, also im Westen, Ratgeber-Sendungen gab, durfte sie nicht so heißen und wurde dann umbenannt in „Umwelt-Sprechstunde“. Meiner Direktorin musste ich vor der Sendung nur die Schwerpunktthemen und die grobe Fragerichtung vorlegen. Um mich gegen mögliche Angriffe verteidigen zu können, habe ich die Sendung mitschneiden lassen. Es gab zweimal Anrufe von der SED-Stadtleitung.

Man bekommt den Eindruck, dass Sie in ihrer Arbeit als Journalistin ziemlich eingeschränkt wurden.

Gemessen an heutigen Verhältnissen ja. Gemessen an den damaligen Verhältnissen hatte ich viel Freiraum. Und ich glaube, dass ich die Grenzen soweit ausgereizt habe, wie es ging. Wir waren ein UKW-Sender, der nur 100 Kilometer im Umkreis zu hören war, in der Hauptstadt Berlin schon nicht mehr. Und man konnte unser Wort – im Radio ist das ja ein flüchtiges Wort – nicht schwarz auf weiß nach Hause tragen. Also: Wir hatten einen gewissen Freiraum. Und unsere Direktorin hat mit uns sehr offen diskutiert. Das war anders als in den anderen Sendern von Radio DDR. Das Klima sehr liberal. Wir hatten mehr Freiräume zum Beispiel als die Leipziger Volkszeitung, die ja von der SED herausgegeben wurde, oder als Radio DDR I in Berlin. Aber natürlich ist es überhaupt nicht vergleichbar mit einer freien Presse.

Haben Sie an den Montagsdemonstrationen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 teilgenommen?

Ja, das begann ja zur Herbstmesse Anfang September. Ich war im Pressezentrum der Messe und habe unterwegs vor allem junge Menschen gesehen, die vor den Kameras des Westfernsehens riefen „Wir wollen raus“. Das wollte ich nicht. Eine Woche später war dann Internationales Bachfest, dessen Pressebüro ich leitete. Am 18. September war ein Empfang im Neuen Rathaus. Ich ging fröhlich beschwingt mit meinem Reportergerät die Treppe hoch. Neben mir ein Mann, weißhaarig, mit Latzhose. Das war Pfarrer Führer, mit dem habe ich mich dann noch vor der Nikolaikirche lange unterhalten. Und von da an bin ich zu jeder Demonstration gegangen. Am Anfang erst einmal beobachtend, am 2. Oktober dann schon mitlaufend. Am 2. Oktober sagte unsere Chefin: „Ihr müsst da hingehen, wir können zwar keinen O-Ton von der Demo senden, aber eine Nachricht müssen wir machen. Die Leute reden von nichts anderem, und im Sender Leipzig hören sie nichts darüber. Das geht nicht.“

Von der Demo am 2. Oktober wusste ich, dass in allen Kirchen aufgerufen wurde: Jeder, der am 9. Oktober kommt, bringt noch einen mit. Da habe ich mir gesagt: Jetzt kommen die Kinder mit. Wir sind getrennt gegangen, die Töchter und ich. Die eine war 16, die andere wurde 18. Ich habe sie bloß gebeten: „Geht bitte nicht in der ersten Reihe. Und geht nicht am Rand“. Wir ahnten, was passieren könnte. Es gab ja in der Stadt das Gerücht, in den Krankenhäusern wären zusätzliche Blutkonserven bereitgestellt worden. In unserer Redaktion wurde ein Feldbett aufgestellt. Ich bin am 9. Oktober mit zitternden Knien zur Demo gegangen. Aber ich bin gegangen. Wir haben uns dann als Familie an der Thomaskirche wiedergefunden. Das hatten wir so verabredet.

Haben Sie geglaubt oder gehofft, dass diese Demonstrationen wirklich was ändern?

Ja! Davon war ich überzeugt. Eigentlich schon am 2. Oktober. Da waren die Studenten da und die haben die „Internationale“ gesungen. „Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“ Das passte genau. Und man konnte das ganz laut singen. Jeder verstand, wie es gemeint war. Das war wirklich toll. Und von da an war ich fest überzeugt, dass das nicht nachlässt. Und am 9. Oktober – ja, völlig klar.

Nachdem am 9. Oktober nicht geschossen wurde und zum ersten Mal der Ring voll war mit Demonstranten, was hatten Sie damals für Vorstellungen, wie es weitergehen könnte?

Eigentlich war unser Ziel eine deutlich reformierte DDR. Wir haben nicht nach westdeutschem Muster gedacht. Wir, das waren drei, vier, fünf Kollegen im Sender, mit denen wir uns über Perspektiven unterhalten haben. Die wichtigsten Anliegen der Demonstranten waren Reisefreiheit und Meinungsfreiheit.

Sie haben später vom Runden Tisch berichtet. Was war das für ein Gefühl?

Das waren Tage der wunderbaren Anarchie. Auf fast allen staatlichen Ebenen bis hin zur Regierung bildeten sich Anfang Dezember Runde Tische. Die alte Macht hatte ihre Legitimation verloren, eine neue war noch nicht da, aber Entscheidungen mussten ja getroffen werden. Am Tage wurde gearbeitet, und einmal wöchentlich ab 17.00 Uhr regiert. Das ging oft bis 24 Uhr. Dann ins Funkhaus, Sendung produzieren. Und danach ins Bett. Ich war die Einzige unter den Leipziger Journalisten, die bis Anfang Juni 1990 regelmäßig davon im Sender Leipzig berichtete, zwei Minuten, zweieinhalb, das ging so. Ich habe zu dieser Zeit versucht, ganz intensiv mitzuteilen, was ich sah und hörte. Ich erinnere mich, dass ich an einem Tag 36 Stunden hintereinander gearbeitet habe, früh angefangen und erst am nächsten Mittag aufgehört. Ich habe damals von einem Tag zum anderen gelebt, im Taumel des Glücksgefühls, alles sagen zu dürfen. Es war so wie ein Rausch. Nie vorher wurden in der DDR so viele Fernsehsendungen geschaut, nie so viele Zeitungen gekauft, nie so viel Radio gehört, wie in dieser Zeit.

 

Geschichte in Geschichten (Teil 3) – Schüler fragen Zeitzeugen: Ute Ziegenhorn

Von Judith Lucas, Laura Kronschwitz und Luise Petereit

Ute Ziegenhorn: Jahrgang 1940, aufgewachsen in Jena, besuchte sie von 1946-52 eine Schule in Leningrad, wohin ihr Vater als Zeiss-Spezialist dienstverpflichtet war, danach ging ihre Familie wieder nach Jena. Dort studierte sie von 1959-65 an der Friedrich-Schiller-Universität Medizin und machte eine Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Seit 1974 arbeitete sie in Leipzig u.a. in der Poliklinik Nord in Gohlis, in der Menckestraße 17, wo sie bis 1992 praktizierte. Nach deren Auflösung war sie bis 2009 selbständige Kinderärztin in Gohlis.

Laura: Unser Thema ist die Friedliche Revolution in Leipzig und die Wende und ich woll-te wissen, wie allgemein Ihre Einstellung zur Revolution war, wollten Sie die Wiedervereinigung?
Wiedervereinigung hin Wiedervereinigung her. Es war eigentlich der Druck in der Arbeitswelt, Vorstellungen vom beruflichen Dasein und vom Werdegang. Da denke ich, da ist die Wiedervereinigung schon ein Schritt gewesen, der einfach notwendig war, vieles war eben doch so, dass man keine freie Entscheidung treffen konnte, in der Berufswahl ging es ja schon los.
[…]

Laura: Haben Sie auch an den Demos teilgenommen?
[…] Bei den sozialistischen Veranstaltungen musstest du erscheinen und da habe ich mich registrieren lassen und habe mich dann abgeseilt. Wenn du da nicht erschienen bist, dann konnten sie dich von der Uni schmeißen. […]

Laura: Ach so, okay und an denen zur Revolution?
Ja, jeden Montag. Wir haben damals auch immer Spätdienst in der Markgrafenstraße gemacht da war es auch immer schwierig durch die Innenstadt zu kommen und jaja das gehörte dazu. […]

Laura: Gerade am 09. Oktober hatten Sie da Angst, dass das irgendwie eskaliert?
Ja, es war sehr angespannt und die haben ja alle möglichen Lastwagen und Überfallkommandos, was das alles war von der NVA und Bereitschaftspolizei, das hatten sie ja alles aufgefahren. Das war ja überall rund rum um den Ring und wusste ja keiner, was passiert. Alle hatten Angst, dass sie schießen, obwohl die von der Bereitschaftspolizei auch alle Schiss hatten. […] Ich habe ja als Kind schon erlebt, den Juni 1953. Das war ja auch schon so eine kritische Zeit, da war ich gerade 13, das war ja auch nicht ohne.

Laura: Und was genau hat Sie dazu bewegt, obwohl Sie so viel Angst hatten?
Weil wir was verändern wollten, einfach das. Nicht die sog. Freiheit, was ist denn Freiheit, aber einfach um diesen ewigen gesellschaftlichen Druck loszuwerden.

Laura: Haben sich Ihre Hoffnungen jetzt damit erfüllt wie es jetzt abgelaufen ist?
Nein, weil vieles war ja mehr oder weniger dann ein Politikum. Da sind die ganzen Polikliniken zerstört wurden, jetzt erfinden sie die Ärztehäuser wieder. […] Da war vieles in Ordnung und wie gesagt auch die Mütterberatung und die Betreuung der Kindereinrichtungen. Da sind wir ja immer einmal die Woche hingegangen und haben uns die Sorgenkinder angeguckt. […]

Laura: Welche Veränderungen mit der Wiedervereinigung waren für Sie am größten und am bedeutendsten?
Naja, für uns war es beruflich ja total anders. […] nach der Wende hat die Stadt uns ja alle entlassen, da mussten wir uns ja alle erstmal kümmern, um Praxisräume, um die Einrichtung. Ich war da Ende 40, das ist ja nicht so einfach, Schulden aufzunehmen, das kannten wir ja alles nicht Kredite in dieser Form […] Dann war das ja ein total anderes Abrechnungssystem, das haben wir ja alles in der vollen Sprechstunde nebenbei uns aneignen müssen, das war schon nicht so einfach.

Laura: Gab es auch Veränderungen vor allem in Ihrer Branche, die Sie so richtig gut fanden? Neue Methoden oder so, die eingeführt wurden?
Na klar. Wir haben ja nicht mehr so viel schreiben müssen dank Computer, Das war schon ein Schritt, ansonsten Sonographiegeräte und sowas, das hatten wir ja alles nicht.

Laura: Was haben Sie sich damals noch, Sie haben ja schon gesagt, Sie haben sich vor allem diese Freiheit erhofft, was noch?
Ja, die sog. Freiheit, da geht es ja auch um die Reisefreiheit, dass man eben mal in der Welt reisen kann. Das durften wir ja alle nicht und naja, dass du eben nicht diesen ständigen gesellschaftlichen Druck hattest […] Mein Vater und meine Schwester, die waren auf Reisekader, obwohl sie nicht in der Partei waren, ins westliche Ausland und, wenn ich nun hier mal einen Messegast hatte, das wurde ja alles weiter gemeldet das haben die ja alles gewusst, die Stasi. […]

Laura: Empfinden Sie das Gesundheitssystem, wie es jetzt organisiert ist, als besser, oder…? Was finden Sie besser oder schlechter?
Ich finde das… also naja, du hast halt heute ganz andere Möglichkeiten der Untersuchung von MRT angefangen. Das hatten wir ja alles nicht, selbst Universitäten hatten das nicht und die Ultraschall Geräte. […] aber ich sag mir eben immer: der Normalsterbliche, wenn der zum Doktor will, der will ordentlich angehört werden, der will nicht, dass der nur in den Computer guckt und sich auch mal mit dem Menschen unterhält und ein bisschen Zuwendung und das gehört eben auch mit dazu und das ist nicht in Ordnung wie es heute zum Teil läuft […]

Laura: Wenn Sie in der Schule Ihre Meinung gesagt haben, über den Staat und so, es gab ja auch das Fach Staatsbürgerkunde, haben Sie da irgendwie bemerkt, dass Sie da schlechtere Noten bekommen haben?
Ja, auch schlechte Beurteilung habe ich von meinem Klassenlehrer bekommen. Der ist mir dann, nachdem ich das Abitur dann hatte, da hat er so quasi sich entschuldigt… Das kannst du zwar nicht beweisen, aber das war so. […]

Laura: Ja, was weiß ich ja nicht, wie schnell das nach der Wende dann auch alles geändert wurde oder…
Ja, das ging ruckzuck. Die haben da auch keine Rücksicht auf uns genommen. Das hätten die mit keinem Wessi gemacht, was die mit uns gemacht haben. Die haben uns ja sofort das neue System aufgedrückt bei der vollen Arbeit. Da hat doch keiner gefragt, wie wir das bewältigen, das Programm. Es hatte keiner bei uns einen Computer, geschweige denn, das andere Abrechnungssystem, das war alles so nebenbei. […]

Laura: Also hätten Sie sich eher gewünscht, dass nicht einfach die DDR komplett an den Westen angepasst wird, sondern das, was es in der DDR gab…
Ja schon anpassen, aber sinnvoll überlegen, was ist hier erhaltenswert und was nicht, das hat man ja nicht gemacht. Man hat rigoros alles erstmal abgesenst. Das hat man doch gar nicht gemacht, Gedanken sich gemacht. Können wir uns das übernehmen oder nicht, das war ja alles schlecht. Und so war es ja nicht. Das ist ja Fakt. […]

Der Text wurde bearbeitet und gekürzt, Ursula Hein

Geschichte in Geschichten (Teil 4) – Schüler fragen Zeitzeugen: Meigl Hoffmann

Von Lina Keilhaue, Lucia Malinowski und Levin Imieske

Meigl Hoffmann wurde 1968 in Leipzig geboren. Nach dem Abschluss der 10. Klasse an der Leibnizschule gründete er als Lehrling sein erstes Kabarett. Opposition wurde ihm, wie er sagt, schon „in die Wiege gelegt“. 1987 stellte er einen Ausreiseantrag. Dieser wurde Anfang Oktober 1989 genehmigt und er musste die DDR verlassen. Anfang 1990 kehrte er aus Frankfurt/Main nach Leipzig zurück und gründete hier 1992 das Kabarett „Gohgelmohsch“.

Während der Wende, bei den großen Massendemonstrationen waren Sie nicht in Leipzig, sondern in Frankfurt/Main. Wie kam es dazu?
Mein Problem in der DDR bestand darin, dass meine Mutter, Leistungssportlerin, 1960 Teilnehmerin an den Olympischen Spielen in Rom, mehrfache DDR-Meisterin und so weiter, 1974 illegal in den Westen ging. Das hieß damals „Republikflucht“. Eigentlich wollte mein Vater mit meinem großen Bruder und mir hinterher, hat dann aber doch gekniffen und ist hier geblieben. Es hätte passieren können, dass er in den Knast kommt und wir dann ins Kinderheim. Meine Mutter versuchte, in die DDR zurückzukehren. Das haben die Behörden aber nicht zugelassen. Nun saß sie getrennt von den Kindern todunglücklich in Frankfurt. Es war sehr schwierig auszureisen, auch wenn du endgültig gehen wolltest. Das hat alles ewig lange gedauert. Die Behörden wollten nicht, dass die Leute massenweise die DDR verlassen. Deswegen haben sie ja 1961 die Mauer gebaut. Als Sohn einer Republikflüchtigen galtest du sofort als Staatsfeind. Noch dazu mit einem Vater, der am Volksaufstand vom 17. Juni 1953 teilgenommen hatte und danach ein halbes Jahr im Knast saß. Da war dir die Opposition schon in die Wiege gelegt. Im Prinzip konnte ich in der DDR gar nichts werden. Wer studieren wollte, musste sich länger für die Armee verpflichten. Der normale Grundwehrdienst dauerte anderthalb Jahre, und wenn du stattdessen nicht drei Jahre gegangen bist, dann haben die gesagt: Studienplatz bekommen Sie keinen und Abitur natürlich auch nicht. So bin ich ein bisschen als Wanderer zwischen den Welten aufgewachsen. Hätte ich meiner Mutter in den Westen folgen sollen? Das hätte gedauert. Und ich hing auch an Leipzig. So habe ich mich dann illegal in Prag mit der Mutter getroffen, in die DDR durfte sie ja nicht wieder rein.

Wie haben Sie sich damals Ihre berufliche Zukunft vorgestellt?
Mir wurde in der 9. Klasse klar, dass ich kein Abitur kriege. Mein Plan, Sportjournalist zu werden, was damit passé. Ich hatte aber keinen Plan B. Kumpels fragten, was ich denn werden wolle. „Ich werde Rockstar, Schauspieler oder Asozialer“, sagte ich. Hab mich dann erst mal für Punk entschieden. Dann sollten wir uns um eine Lehrstelle bewerben. In der DDR gab‘s ja offiziell keine Arbeitslosen und jeder bekam eine Lehrstelle. Nicht die, die er haben wollte, aber du kriegtest auf jeden Fall eine. Ich hatte keine Idee, was ich denn nun werden sollte. Da gab es so blaue Heftchen, da standen diese ganzen Berufe drin, also zum Beispiel Facharbeiter für Betonbau oder Zerspanungstechniker. Alles hat nur nach Arbeit und Schmutz gerochen, wenn du das gelesen hast. Wegen totaler Ratlosigkeit habe ich mich einfach gar nicht beworben. Daraufhin hat die Schuldirektorin meinen Vater hinbestellt. Der hat dann zu mir gesagt: „Hör zu, ich besorg dir eine Lehre. Die machst du ohne Fehlzeiten, die Sache wird dir zwar nicht gefallen, aber du machst sie so gut, wie du kannst. Musst ja später dann nicht in dem Beruf arbeiten. Dafür unterstütze ich alles, was du danach machst.“ Sag ich: „Okay, das ist ein Deal.“ Und dann hat er mir eine Lehrstelle als Maschinen- und Anlagenmonteur besorgt.

Wie kam es dann aber zum Kabarett?
Ich saß mit meinen Kumpels im Café, wir haben uns damals ja als Bohème, als Halbintellektuelle, betrachtet. Und da hatte irgendeiner ein Kabarettbuch einstecken, von der „Herkuleskeule“ in Dresden. Da hab ich reingeguckt, und da war ein Gedicht drin ‚Langsam im Denken‘. Das fand ich cool. Da hab ich gesagt: Ich schreibe keine Gedichte, ich singe keine kommunistischen Volkslieder. Wir machen Kabarett. Zusammen mit ein paar verrückten Kumpels aus der Berufsschule haben wir dann damit angefangen. Und das war so gut, also so jung, so gegen den Strich irgendwie, dass die in der Berufsschule gesagt haben, wir sollten gleich ein richtiges Kabarett gründen. Damals gab es eine Punkband, die hieß ‚Wutanfall‘, von der war ich großer Fan. Deswegen hab ich mein Kabarett ‚Mutanfall‘ genannt.

1987 stellten Sie einen Ausreiseantrag. Was hatte Sie dazu bewogen?
Vom September 1985 bis Mai 1987 habe ich meine Ausbildung gemacht und mit den Kumpels Kabarett gespielt. Dann wurde mir klar, dass das mit einer Theater- oder Kabarettkarriere unter dem Radar der staatlichen Organe nicht mehr lange weitergeht. Kabarett geht ab einer gewissen Öffentlichkeitswirkung nicht ohne Deal mit den Behörden. Und mit Mutter im Westen ist es sehr fraglich, ob sie dich überhaupt vor einem größeren Publikum auftreten lassen. Und da wusste ich, jetzt musst du gehen. Ich wollte eigentlich nicht weg, aber ich dachte mir: Hier kann ich nicht länger Kabarettist sein. Also habe ich einen Ausreiseantrag in den Westen gestellt, zur Pflege der Mutter. Die hatte schweres Rheuma.

Wie sind Sie mit der oppositionellen Szene in Leipzig in Berührung gekommen?
Ich kannte eine Menge Leute, die im Kirchenkeller der Michaeliskirche verkehrten, und kam auch viel in Kneipen und Klubs rum, so habe ich oppositionelle Leute kennengelernt. Das war mal so ein Umwelt-Typ oder einer, der fragte: „Rosa Luxemburg, kennst du die?“ Und dann war ich ja mit dem Kabarett sowieso kritisch unterwegs. Wir haben uns als Linke verstanden. Also den Staat selber nicht. Wir waren der Meinung: Das sind keine Kommunisten, das sind Arbeiterverräter. Wir dagegen fühlten uns als bolschewistische Avantgarde, als Trotzkisten, als Revolutionäre im Geiste von Bucharin und so. Das war uns schon irgendwie wichtig. Einer meiner Freunde und Mitbegründer des Kabaretts hat damals gesagt: „Ich bin zwar Genosse, aber ich trage das Parteiabzeichen nicht am Revers, sondern im Herzen.“ Also der war wirklich Kommunist, ein guter.

Mitte/Ende 1988 begannen dann in Leipzig die ersten oppositionellen Aktionen. Zur Dokfilmwoche haben wir das erste Ding gemacht. In der DDR war gerade die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ verboten worden, wegen eines Artikels über den Hitler-Stalin-Pakt. Vorm Kino „Capitol“ ließ eine kirchliche Gruppe Luftballons fliegen, wo ‚Sputnik‘ draufstand. Die Stasi hinterher, mit dem Regenschirm haben sie versucht, die Luftballons zu zerstechen… Die haben auch mal einem von uns aufs Maul gehauen. Also, das war schon nicht ohne. Und dann gab‘s am 15. Januar den Liebknecht-Luxemburg-Marsch, da war ich dann auch dabei. Das war die größte Demonstration seit dem 17. Juni 1953. Beim Pleiße-Gedenkmarsch, da ging‘s um die Umwelt, aber auch um Meinungsfreiheit. Dann häuften sich langsam Aktionen wie das Straßenmusikfestival am Thomaskirchhof im Juni 1989. Da war ich auch dabei, einen Steinwurf entfernt vom Geschehen stand ich hinter den Fotografen. Ich wusste ja nicht, sind die von uns oder von der Stasi.

Wie würden Sie Ihre Rolle während der Proteste beschreiben?
Ich selber war dabei wie ein Zeitzeugen-Journalist, der keinen Fotoapparat mithat, aber die Bilder im Kopf speichert. Zum Beispiel von der Einkesselung der Teilnehmer des Straßenmusikfestivals durch die Polizei. Danach wusste ich: Die werden den Staat verteidigen, wenn’s sein muss, auch gegen das eigene Volk. Nach dem Straßenmusikfestival habe ich meinen Ausreiseantrag dann auch gedanklich gestellt. Bis dahin war ich ein DDR-Bürger, der eigentlich lieber bleiben will, doch nun betrachtete ich mich als im Exil lebend hier in Leipzig. Ja, und dann wurde das im Sommer 1989 auf dem Nikolaikirchhof immer größer und immer interessanter. Neben dem „Wir wollen raus!“ gab’s auf einmal auch den Spruch „Wir bleiben hier!“. Da war ich live dabei, als der erfunden wurde. Nachdem die „Tagesschau“ darüber berichtete, kamen am nächsten Montag noch viel mehr Leute. Teilweise standen sie hinter der Absperrung, teilweise auf dem Nikolaikirchhof, immer mit Polizeiketten dazwischen. Am 2. Oktober haben die dann so ‘ne Kette aufgemacht, als der Druck von außen zu stark wurde. Was passierte? Die Zuschauer solidarisierten sich mit uns, und wie von Geisterhand zog ein Demonstrationszug los über den Augustusplatz, damals Karl-Marx-Platz. Ich stand da auf der Treppe vor der Oper und konnte es nicht fassen: Der Platz schwarz vor Menschen. Und alle waren sich einig: „Das kriegen die nie wieder in den Griff!“

Vier Tage vor der entscheidenden Demo am 9. Oktober wurde Ihr Ausreiseantrag genehmigt …
Ja, am 5. Oktober war es soweit. Ich hab noch zu meinen Kabarett-Leuten gesagt: „Ich würde ja gerne bleiben. Ich hätte auch in Mecklenburg einen Unterschlupf. Aber ich glaube, dass die am 9. Oktober schießen werden.“ Denn wenn die zulassen, dass der Demonstrationszug einmal um den Ring läuft, dann ist die Demonstrationsfreiheit da. Damit ist die Meinungsfreiheit gegeben, dann kommt als nächstes die Pressefreiheit. Danach die Forderung nach Reisefreiheit. Und bei der Reisefreiheit ist die Existenz des Staates DDR infrage gestellt.

Im Westen haben Sie sich entschieden, nach Leipzig zurückzukehren…
13 Tage nach meiner Ausbürgerung ist Honecker zurückgetreten. Da dachte ich, das kann doch nicht wahr sein: Die ganze Zeit halte ich durch. Und jetzt, wo das Arschloch zurücktritt, darf ich nicht mehr rein in die DDR! Die spinnen doch wohl. Wir durften dann endlich am Heiligabend visafrei wieder rein. Bis März 1990 bin ich noch gependelt, mal vier Tage Frankfurt, dann wieder drei Tage Leipzig. Und dann hab ich gesagt: Ich komme zurück. Denn hier sind die Freiräume. Im Westen ist alles schon fertig und verteilt, aber im Osten hast du noch die anarchische Möglichkeit, was zu machen als freier Künstler. Und genauso ist es gekommen.

Der Text wurde bearbeitet und gekürzt von Wolfgang Leyn.