Geschichte in Geschichten (Teil 9) – Schüler fragen Zeitzeugen: Gotthard Weidel
von Denise Beck, Flora Budde, Paul Schreiber
Gotthard Weidel, geboren 1947, wuchs in der DDR auf. Als Wehrdienstverweigerer studierte er Theologie von 1967 – 1972 in Leipzig. Nachdem er als Pfarrer in Kahnsdorf tätig war, kam er 1984 an die Friedenskirche in Gohlis. Seit den 80er-Jahren nahm Gotthard Weidel aktiv an den Friedensgebeten teil. Am 9. Oktober 1989, dem Tag der Entscheidung, hielt er in der Nikolaikirche die Predigt zum Friedensgebet. Nach 1996 arbeitete er bis zu seiner Pensionierung 2009 als Soldatenseelsorger in der Bundeswehr.
Wie war Ihr Verhältnis zum DDR-Regime?
Pfarrer Weidel: Ich wurde in der DDR nicht verfolgt, litt aber unter Rechtlosigkeit, am Mangel von Gestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Leben und an fehlender, persönlicher Freiheit. Für das tägliche Brot in der DDR war gesorgt. Die restlichen Dinge musste man sich organisieren. Wir lebten in der „größten DDR der Welt“, aber sie war in keiner Weise weltoffen. Keiner rechnete mit dem Fall der Mauer oder dem Niedergang der DDR. Deshalb wollten viele das Land verlassen. Sie sahen für sich in der DDR keine Zukunft .
Ich bin heute noch der Meinung, dass, wenn es in der DDR mehr Teilhabe oder Gespräche gegeben hätte, wären Entwicklungen möglich gewesen. Aber – die Menschen mit ihren kritischen Fragen und kreativen Fähigkeiten wurden nicht ernst genommen. Das sind meine Erfahrungen. Wer damals in Leipzig lebte, konnte alle Probleme der DDR hautnah miterleben.
Herrschte innerhalb Ihrer Gemeinde eine einheitliche politische Position?
Pfarrer Weidel: Nein. Ich denke, das ist ganz normal… Viele Mitbürger, die den 2. Weltkrieg und den 17. Juni 1953 erlebt hatten, waren damals nicht der Meinung, etwas verändern zu können. Für sie war es eher eine Frage, wie können wir in Ruhe leben. Das musste ich akzeptieren. Es gab auch Menschen, denen die Forderungen nach Entwicklung und Teilhabe zu lasch waren. Wiederum gab Christen, die die Meinung vertraten, dass allein das Gebet friedliche Veränderungen bringen kann und das Entscheidende im Leben eines Christen ist.
Wir nahmen sehr bewusst in der Friedenskirche diese Themen wahr. Auf der einen Seite versammelte sich die „Gruppe Hoffnung“. Die Antragssteller, welche die DDR verlassen wollten, fanden keinen Ort, an dem sie sich versammeln konnten. Auf der anderen Seite traf sich eine „Dialog – Gruppe“. Ihr Ziel bestand nicht darin, die DDR zu stürzen. Vielmehr wollten die Teilnehmer mitreden, mitgestalten und das Land verändern. Ich arbeitete mit engagierten Gemeindeglieder in dieser Gruppe zusammen.
Ich erlebte, dass oft interessierte, engagierte und junge Menschen den „Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR,“ wie es offiziell hieß, stellten. Die zurück bleibenden Eltern, Freunde oder Kollegen waren hier verwurzelt. Sie erlebten schmerzhaft, wie ihre Kinder und Enkelkinder nach der Ausreise hinter einer fast undurchlässigen Grenze im Westen lebten. Nur zu besonderen Anlässen konnte ein Antrag auf eine Reisegenehmigung gestellt werden. Während einer Demonstration im Herbst 89 wurde eine ältere Frau von einem Reporter gefragt: „Warum sind sie hier?“ Sie antwortete: „Unsere Kinder und Enkelkinder gehen in den Westen. Wir bleiben zurück. Das muss anders werden.“ Die Menschen und Familien wurden durch solche Erfahrungen zerrissen.
Gab es staatlichen Druck oder Benachteiligungen, um Sie von Ihrer Mitwirkung in kirchlichen Initiativen abzuhalten?
Pfarrer Weidel: Viele Menschen in der DDR erlebten Benachteiligungen oder Ärgernisse. Besonders in den 50er- und 60er-Jahren wurden Andersdenkende verfolgt, verurteilt und inhaftiert. Damit ist mein Leben nicht zu vergleichen. […] Einmal sagte eine Lehrerin im Unterricht zu meinem Sohn: „Was nützt es, wenn dein Vater „preedigt“, dann fuhr sächsisch fort, „und wir haben keene Breetchen?“ Der Beruf des Vaters darf keine Rolle für einen Lehrer gegenüber seinen Schülern spielen. Ich wollte die Lehrerin umgehend sprechen. Es war nicht möglich. Ich versuchte es mehrmals und hatte keinen Erfolg. Erst als ich mich an den Rat der Stadt wandte, erfolgte eine Reaktion in der Schule. Es wurde von einem Missverständnis gesprochen. Eigentlich hatte ich die Absicht, mit der Lehrerin in einen Dialog zu treten. Ein Gespräch wurde mir verweigert.
Waren auch Ihre Familienmitglieder von Schikanen betroffen?
Pfarrer Weidel: Meine Frau hatte Ökonomie studiert. Sie konnte in der DDR nie einen leitenden Posten erreichen, weil sie die Frau eines Pfarrers war.
Hatten Sie Angst, dass Ihre kritische Haltung gegenüber der DDR negative Folgen nach sich ziehen könnte?
Pfarrer Weidel: Ja, während der Demonstrationen im Herbst 1989 hatten wir Angst. Entweder meine Frau oder ich konnten jeweils an einer Demonstration teilnehmen. Unsere Kinder sollten im Falle einer Verhaftung nicht allein bleiben. […] Es gab damals Verhaftungen. Gleichzeitig zeigten viele Solidarität mit den Verhafteten. An der Nikolaikirche waren die Fenstergitter mit Namen von verhafteten Personen, mit Blumen, Mitteilungen, Gebeten und Grüßen bestückt. Die Menschen hatten die staatliche Bevormundung satt. Sie hatten zwar Angst, aber ließen sich ihren Mut und Zuversicht nicht nehmen. Auf der Straße überwanden sie Schritt für Schritt ihre Angst. Aus den 70.000 am 9. Oktober wurden eine Woche später 125.000 Demonstranten.
Wie drückend empfanden Sie Ihre Verantwortung als Pfarrer?
Pfarrer Weidel: Die Kirche war ein geschützter Raum. Als Mitglied der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der UNO, musste die DDR auf die öffentliche Meinung anderer Staaten Rücksicht nehmen. […] Wir, die Kirchen, waren der einzige nicht integrierte Bestandteil in der DDR… Als Pfarrer konnte ich so Räume der Kirchgemeinde hilfesuchenden Menschen zur Verfügung stellen. Im Juli 1989n fand ein Kirchentag in Leipzig statt. Eine Gruppe demonstrierte mit chinesischen Schriftzeichen und erinnerte an den 1989 niedergeschlagenen Aufstand auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ in Peking. Diese Gruppe setzte nach dem Kirchentag auf der Karl-Liebknecht-Straße ihre Demo fort. Sofort verfolgte die Staatssicherheit die Teilnehmer. Sie flüchteten zur Peterskirche. In die Peterskirche folgten die Mitarbeiter der Staatssicherheit nicht. Es gab auch für die Stasi Grenzen. Kirchen sind seit dem Mittelalter ein Zufluchtsort für Verfolgte.
Am 5. Oktober, während einer Dienstberatung aller Leipziger Pfarrer mit dem sächsischen Landesbischof Johannes Hempel, sprachen wir über das am 9. Oktober bevorstehende Friedensgebet. Es stand die Frage im Raum: Ist es verantwortlich, das Friedensgebet durchzuführen? Es kann sein, so lauteten unsere Überlegungen, dass es nach der Beendigung zu Auseinandersetzungen mit den staatlichen Organen kommt. Andererseits: Ist es verantwortlich, das Friedensgebet abzusagen?
Das Resultat lautete: Es werden am kommenden Montag in mehreren Innenstadtkirchen unserer Stadt Friedensgebete durchgeführt! Die Kirchen bleiben bis zur Beendigung der Demonstration als Fluchtmöglichkeit offen.
Sie haben am 9. Oktober in der Nikolaikirche die Predigt gehalten. Was war Ihnen dabei besonders wichtig zu vermitteln?
Pfarrer Weidel: Unser Thema lautete: „Volkes Stimme lasst uns sein“. Daraus wurde auf der Straße „Wir sind das Volk“. Das lag in der Luft. Eine Basisgruppe erarbeitete das Konzept des Friedensgebets. Nach dem brutalen Vorgehen der Polizei am 7. Oktober schrieb ich meine Predigt neu. Sie sollte offen, einladend und dialogfähig sein. Die Menschen sollten auch mit unterschiedlichen Anschauungen als Gesprächspartner ernst genommen werden. Ich zitierte „Das Rad der Geschichte kann nicht zurückgedreht werden“ und fuhr fort: „Das gilt auch jetzt in unserer Stadt. Wir müssen miteinander reden. Dieses Land und unsere Stadt lässt sich nur auf diese Weise verändern.“
Am 9. Oktober 1989 gab es eine Liste, auf welcher 130 Personen – unter anderem auch Sie – vermerkt waren, für die Verhaftungen vorgesehen waren. Fürchteten Sie sich vor einer Festnahme?
Pfarrer Weidel: Ich ahnte, dass es Listen für geplante Verhaftungen gibt. Mir war klar, dass sich im Falle einer Verhaftung meine Kirche für mich einsetzt.
Welche Erwartungen haben Sie damals mit der Friedlichen Revolution verbunden? Sind diese in Erfüllung gegangen?
Pfarrer Weidel: Ich kenne niemanden, der damals den Sturz der DDR wollte. […] Die Macht der SED wurde von der Staatssicherheit abgesichert. Die hochgerüstete Sowjetunion und die besondere politische Lage im geteilten Deutschlands schlossen nach meiner Meinung weitgehende Veränderungen aus. Erst 1990 erkannte ich, wie kleinkariert mein Realismus war. Ein Jahr später gab es die DDR nicht mehr. […] Aber – ich besaß im Oktober 1989 die Hoffnung auf Veränderungen. Ich wollte über Fragen und Themen sprechen, die mich und meine Gemeinde beschäftigten. Ich wollte frei sein.
Welche allgemeinen Forderungen existierten in der kritischen Bevölkerung?
Pfarrer Weidel: Die Menschen wollten eine freie Presse, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, selbstständige Parteien und freie Wahlen. Das war wenig. Es sind die Grundelemente bürgerlicher Freiheit. Wenn diese Forderungen erfüllt worden wären, musste die DDR zusammenbrechen. Das ist mir später klargeworden.
Haben Sie sich mehr von der Wende erhofft? Und wurde Ihnen seitens Ihrer Gemeindemitglieder von Enttäuschungen berichtet?
Pfarrer Weidel: Als Pfarrer erlebte ich vieles auf einer persönlichen Ebene hautnah mit, aber meine Erwartungen hielten sich in Grenzen.
Viele Menschen erwarteten, dass sich auf einmal das Füllhorn öffnet. Diese Vorstellung war eine Illusion. Die versprochenen blühenden Landschaften sind heute vorhanden. Da kann man sagen, was man will. Aber – ich denke an meine Gemeindeglieder, die nach einem langen Berufsleben arbeitslos wurden. Was bedeutet es, plötzlich die Arbeit zu verlieren und in soziale Notlagen oder Abhängigkeiten zu geraten? Es war für viele auch eine Katastrophe.
Redaktionell bearbeitet von Ursula Hein und Wolfgang Leyn