von Matthias Judt

Die Geschichte der Motorisierung der Privathaushalte in Deutschland verlief über mehrere Etappen. Sie begann mit Krafträdern, seien es Mofas, Mopeds oder Motorräder, führte über Besitz von einzelnen PKW in vielen Haushalten bis zur Doppel- oder gar Dreifachmotorisierung in den Familien. An den Zulassungszahlen für Privatfahrzeuge kann man diese Entwicklung gut nachvollziehen, die inzwischen auch wieder zu vermehrten Besitz von Motorrädern – oft jedoch als Zweit- oder Drittfahrzeug geführt hat. Dreißig Jahre lang, zwischen 1926 und 1956, waren in Deutschland mehr Motorräder als PKW zugelassen. In der großen Bedeutung, die das Motorrad in Deutschland spielte, unterscheidet sich unser Land fundamental von der Geschichte der Motorisierung in anderen Ländern wie den USA oder Großbritannien. (1)

Eine Zwischenetappe auf dem Weg zum privat gehaltenen PKW war die Ausrüstung von Motorrädern mit Seitenwagen. In Deutschland waren seit der Zeit des Ersten Weltkrieges insgesamt 22 Hersteller aktiv, von denen zwölf auch oder erst nach dem Zweiten Weltkrieg tätig wurden. (2) Motorradgespanne waren die ersten „Familienkutschen“ mit dem Vater, das Motorrad fahrend, der Mutter im Beiwagen mit einem Kind oder auf dem Sozius sitzend, weil inzwischen weiterer Nachwuchs transportiert werden musste. Sie konnten auch erster „Pickup“ sein, mit Beiwagen, in denen Material und Werkzeug transportiert werden konnten. Motorradseitenwagen stellen also ein wichtiges Stück der Motorisierungsgeschichte des 20. Jahrhunderts dar, gerade in Deutschland.

Auf dem Gebiet der DDR gab es zwei Hersteller von Seitenwagen, AWO in Suhl, wo allerdings nur wenige Jahre zwischen 1955 und 1958 Motorradgespanne produziert wurden, und Stoye-Fahrzeugbau Leipzig, wo von 1925 bis 1990 insgesamt 300.000 Seitenwagen hergestellt wurden. Mit dem zeitweiligen Auslaufen der Fertigung von Seitenwagen in der alten Bundesrepublik am Ende der 1960er wurde Fahrzeugbau Stoye für fast zwei Jahrzehnte sogar das einzige Unternehmen, das in Deutschland Seitenwagen herstellen sollte. (3)

Die Firma Stoye wurde 1920 als mechanische Werkstatt gegründet, die auf Kundenwunsch auch Motorradseitenwagen baute. 1925 tat Walter Stoye (1893 – 1970) sich mit dem Kaufmann Johannes Mittenzwei zusammen. Beide Unternehmer sollten sich dabei sehr gut wechselseitig ergänzen. Mittenzwei wirkte vor allem nach außen und sorgte dafür, dass der Name „Stoye Fahrzeugbau“ immer bekannter wurde. Stoye war wiederum ein sehr einfallsreicher Konstrukteur, der zwischen 1928 bis 1965 ca. 15 Patente und Gebrauchsmuster entwickelte. „Er setzte neue Erkenntnisse sehr schnell in seinen Seitenwagenkonstruktionen um und hat so stets technisch fortschrittliche, aber gleichzeitig auch qualitativ hochwertige und formschöne Seitenwagen gebaut.“ (4)

„Ende der Zwanziger und vor allem in den Dreißiger Jahren konnten dadurch wiederum von Mittenzwei und zunehmend von den mit Seitenwagen belieferten großen deutschen Motorradherstellern und deren Werkssportfahrern mit STOYE-Gespannen viele internationale Wettbewerbe (z.B. Internationale 6-Tagefahrten 1932 bis 1938, u.v.a.) gewonnen werden.“ (5)

Nachdem andere Leipziger Produktionsstandorte der Firma dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen waren, verlagerte die Fahrzeugbau Stoye Leipzig ihre Fertigung 1944 komplett auf das Gelände einer früheren Drahtwaren- und einer Papierfabrik an der Lindenthaler Straße in Gohlis. Kriegsbedingt kam allerdings dennoch die Neufertigung von Seitenwagen zunächst komplett zum Erliegen. (6)

Noch unter amerikanischer Besatzung erhielt die Firma 1945 die Genehmigung, mit der Reparatur von Fahrzeugen, darunter Seitenwagen, die Fertigung am Standort in der Lindenthalter Straße wieder aufzunehmen. Ab 1949 begann die noch vereinzelte Herstellung neuer Seitenwagen für die in sowjetischen Besitz übergegangenen Zweiradwerke in Suhl. Ein Jahr später konnte die Serienfertigung in größerer Stückzahl aufgenommen werden. (7)

Bis 1961 produzierte Stoye Seitenwagen für die SAG AWTOWELO (AWO bzw. Simson), die Eisenacher Motorenwerke (EMW, später Automobilwerke Eisenach) und das Motorradwerk Zschopau (MZ). Zwischen 1925 und 1990 wurden etwa 300 verschiedene Typen entwickelt und produziert. Ab 1956 wurden die weltweit ersten speziell für die neuen Langschwingenfahrwerke der Motorräder SIMSON-SPORT und MZ ES konstruierten Seitenwagen gebaut , die seinerzeit als die „die weltweit modernsten und komfortabelsten“ galten. Vom 1962 von Walter Stoye entwickelten Typ „Superelastik“ wurden bis zur Einstellung der Seitenwagenproduktion 1990 ca. 80.000 Einheiten hergestellt. (8)

Die Firma erlebte ab 1961 einen Prozess der schleichenden Verstaatlichung, der mit der endgültigen Enteignung 1972 abgeschlossen wurde. Anfang der 1960er Jahre wurde erstmals eine staatliche Beteiligung aufgenommen, das Unternehmen wurde ein „Betrieb mit staatlicher Beteiligung“ (BSB). Einher ging der dadurch beginnende Anschluss an die MZ-Werke mit dem Herausdrängen der bisherigen Eigentümer Walter Stoye (im Jahre 1967) und Johannes Mittenzwei (im Jahre 1970). Im Frühjahr 1972 gehörte Fahrzeugbau Stoye dann zu den 11.000 Unternehmen, die im Zuge der letzten großen Nationalisierungswelle in der DDR „ins Volkseigentum“ überführt wurden. (9) Aus der Firma wurde das „Werk IV“ der Motorradwerke Zschopau.

Die Zuordnung zu MZ veränderte das Produktionsprofil entscheidend. Zunehmend wurden Ersatzteile für die MZ-Motorräder hergestellt. 1973 wurde sogar die Fertigung von Seitenwagen für etwa zwei Jahre völlig eingestellt. 1975 wurde sie jedoch wieder aufgenommen und dann bis April 1990 ohne Unterbrechung durchgeführt. (10)

Nach der Vereinigung Deutschlands wurde die Herstellung von Seitenwagen nicht wieder aufgenommen. Die Treuhandanstalt veräußerte das Firmenareal an einen Leipziger Autohändler. Auf dem Gelände entstanden ein Autohaus, eine Tankstelle, eine Autowaschstraße sowie ein Parkhaus. (11)

Vor einigen Jahren machte das Autohaus dicht. 2016/17 wurden seine Räumlichkeiten umgebaut, um ursprünglich daraus eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge und andere Personen zu machen. Im August 2017 wurde bekannt, dass sie nur als Reserveflächen vorgehalten werden sollen. (12) Nichtsdestotrotz erinnert seit kurzem ein Straßenname an die frühere Zweckbestimmung des Areals: Am 21. Juni 2018 beschloss der Leipziger Stadtrat, den Straßenabschnitt der Halberstädter Straße nordwestlich der Lindenthaler Straße in „Stoyestraße“ umzubenennen. (13)

(1) Vgl. Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, Frankfurt am Main/ New York 2008, S. 319; Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000, S. 305.
(2) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Motorradgespannherstellern.
(3) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Motorradgespannherstellern; Claus Hüne, „Die Firma Stoye und das Autohaus an der Lindenthaler Straße“ (im Folgenden „Hüne 2017“), in Bürgerverein Gohlis 2017, S. 168-170, hier S. 170.
(4) wiedergegeben und zitiert nach: http://www.stoyeleipzig.de/Geschichte.
(5) zitiert nach: http://www.stoyeleipzig.de/Geschichte.
(6) Vgl. Hüne 2017, S. 168f; http://www.stoyeleipzig.de/Geschichte.
(7) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Stoye-Fahrzeugbau-Leipzig; Hüne 2017, S. 168; ders. „Fahrzeugbau Stoye“, in: http://www.leipziger-industriekultur.de/fahrzeugbau-stoye/ (im Folgenden „Hüne 2015“).
(8) Vgl. Hüne 2017, S. 168f.
(9) Vgl. Hüne 2015; Hüne 2017, S. 169; Matthias Judt, “Aufstieg und Niedergang der ‚Trabi-Wirtschaft‘”, in ders. (Hg.) DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 1997 und Bonn 1998, S. 87 – 164, hier S. 90 und 121; Wieland Eschenhagen/Matthias Judt, Der Neue Fischer Weltalmanach Chronik Deutschland 1949-2014. 65 Jahre deutsche Geschichte im Überblick, Frankfurt/Main 2014, S. 196. Siehe auch Heinz Hoffmann, Die Betriebe mit staatlicher Beteiligung im planwirtschaftlichen System der DDR, Stuttgart 1999.
(10) Vgl. Hüne 2017, S. 170.
(11) Vgl. Hüne 2017, S. 170.
(12) Vgl. Hüne 2017, S. 170; Stadt Leipzig, Dezernat Jugend, Soziales, Gesundheit und Schule, „Informationsvorlage Nr. VI-DS-04686. Aktueller Sachstand und weitere Planungen für die Unterbringung von Geflüchteten in der Zuständigkeit der Stadt Leipzig – Stand: 21.08.2017“, S. 13; http://www.leipzig.de/jugend-familie-und-soziales/auslaender-und-migranten/fluechtlinge-in-leipzig/fluechtlingsunterkuenfte-in-leipzig/, aufgerufen am 31. August 2017.
(13) Vgl. Leipziger Amtsblatt vom 30. Juni 2018.