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Stadtteilgeschichte

Geschichte in Geschichten (Teil 4) – Schüler fragen Zeitzeugen: Meigl Hoffmann

Von Lina Keilhaue, Lucia Malinowski und Levin Imieske

Meigl Hoffmann wurde 1968 in Leipzig geboren. Nach dem Abschluss der 10. Klasse an der Leibnizschule gründete er als Lehrling sein erstes Kabarett. Opposition wurde ihm, wie er sagt, schon „in die Wiege gelegt“. 1987 stellte er einen Ausreiseantrag. Dieser wurde Anfang Oktober 1989 genehmigt und er musste die DDR verlassen. Anfang 1990 kehrte er aus Frankfurt/Main nach Leipzig zurück und gründete hier 1992 das Kabarett „Gohgelmohsch“.

Während der Wende, bei den großen Massendemonstrationen waren Sie nicht in Leipzig, sondern in Frankfurt/Main. Wie kam es dazu?
Mein Problem in der DDR bestand darin, dass meine Mutter, Leistungssportlerin, 1960 Teilnehmerin an den Olympischen Spielen in Rom, mehrfache DDR-Meisterin und so weiter, 1974 illegal in den Westen ging. Das hieß damals „Republikflucht“. Eigentlich wollte mein Vater mit meinem großen Bruder und mir hinterher, hat dann aber doch gekniffen und ist hier geblieben. Es hätte passieren können, dass er in den Knast kommt und wir dann ins Kinderheim. Meine Mutter versuchte, in die DDR zurückzukehren. Das haben die Behörden aber nicht zugelassen. Nun saß sie getrennt von den Kindern todunglücklich in Frankfurt. Es war sehr schwierig auszureisen, auch wenn du endgültig gehen wolltest. Das hat alles ewig lange gedauert. Die Behörden wollten nicht, dass die Leute massenweise die DDR verlassen. Deswegen haben sie ja 1961 die Mauer gebaut. Als Sohn einer Republikflüchtigen galtest du sofort als Staatsfeind. Noch dazu mit einem Vater, der am Volksaufstand vom 17. Juni 1953 teilgenommen hatte und danach ein halbes Jahr im Knast saß. Da war dir die Opposition schon in die Wiege gelegt. Im Prinzip konnte ich in der DDR gar nichts werden. Wer studieren wollte, musste sich länger für die Armee verpflichten. Der normale Grundwehrdienst dauerte anderthalb Jahre, und wenn du stattdessen nicht drei Jahre gegangen bist, dann haben die gesagt: Studienplatz bekommen Sie keinen und Abitur natürlich auch nicht. So bin ich ein bisschen als Wanderer zwischen den Welten aufgewachsen. Hätte ich meiner Mutter in den Westen folgen sollen? Das hätte gedauert. Und ich hing auch an Leipzig. So habe ich mich dann illegal in Prag mit der Mutter getroffen, in die DDR durfte sie ja nicht wieder rein.

Wie haben Sie sich damals Ihre berufliche Zukunft vorgestellt?
Mir wurde in der 9. Klasse klar, dass ich kein Abitur kriege. Mein Plan, Sportjournalist zu werden, was damit passé. Ich hatte aber keinen Plan B. Kumpels fragten, was ich denn werden wolle. „Ich werde Rockstar, Schauspieler oder Asozialer“, sagte ich. Hab mich dann erst mal für Punk entschieden. Dann sollten wir uns um eine Lehrstelle bewerben. In der DDR gab‘s ja offiziell keine Arbeitslosen und jeder bekam eine Lehrstelle. Nicht die, die er haben wollte, aber du kriegtest auf jeden Fall eine. Ich hatte keine Idee, was ich denn nun werden sollte. Da gab es so blaue Heftchen, da standen diese ganzen Berufe drin, also zum Beispiel Facharbeiter für Betonbau oder Zerspanungstechniker. Alles hat nur nach Arbeit und Schmutz gerochen, wenn du das gelesen hast. Wegen totaler Ratlosigkeit habe ich mich einfach gar nicht beworben. Daraufhin hat die Schuldirektorin meinen Vater hinbestellt. Der hat dann zu mir gesagt: „Hör zu, ich besorg dir eine Lehre. Die machst du ohne Fehlzeiten, die Sache wird dir zwar nicht gefallen, aber du machst sie so gut, wie du kannst. Musst ja später dann nicht in dem Beruf arbeiten. Dafür unterstütze ich alles, was du danach machst.“ Sag ich: „Okay, das ist ein Deal.“ Und dann hat er mir eine Lehrstelle als Maschinen- und Anlagenmonteur besorgt.

Wie kam es dann aber zum Kabarett?
Ich saß mit meinen Kumpels im Café, wir haben uns damals ja als Bohème, als Halbintellektuelle, betrachtet. Und da hatte irgendeiner ein Kabarettbuch einstecken, von der „Herkuleskeule“ in Dresden. Da hab ich reingeguckt, und da war ein Gedicht drin ‚Langsam im Denken‘. Das fand ich cool. Da hab ich gesagt: Ich schreibe keine Gedichte, ich singe keine kommunistischen Volkslieder. Wir machen Kabarett. Zusammen mit ein paar verrückten Kumpels aus der Berufsschule haben wir dann damit angefangen. Und das war so gut, also so jung, so gegen den Strich irgendwie, dass die in der Berufsschule gesagt haben, wir sollten gleich ein richtiges Kabarett gründen. Damals gab es eine Punkband, die hieß ‚Wutanfall‘, von der war ich großer Fan. Deswegen hab ich mein Kabarett ‚Mutanfall‘ genannt.

1987 stellten Sie einen Ausreiseantrag. Was hatte Sie dazu bewogen?
Vom September 1985 bis Mai 1987 habe ich meine Ausbildung gemacht und mit den Kumpels Kabarett gespielt. Dann wurde mir klar, dass das mit einer Theater- oder Kabarettkarriere unter dem Radar der staatlichen Organe nicht mehr lange weitergeht. Kabarett geht ab einer gewissen Öffentlichkeitswirkung nicht ohne Deal mit den Behörden. Und mit Mutter im Westen ist es sehr fraglich, ob sie dich überhaupt vor einem größeren Publikum auftreten lassen. Und da wusste ich, jetzt musst du gehen. Ich wollte eigentlich nicht weg, aber ich dachte mir: Hier kann ich nicht länger Kabarettist sein. Also habe ich einen Ausreiseantrag in den Westen gestellt, zur Pflege der Mutter. Die hatte schweres Rheuma.

Wie sind Sie mit der oppositionellen Szene in Leipzig in Berührung gekommen?
Ich kannte eine Menge Leute, die im Kirchenkeller der Michaeliskirche verkehrten, und kam auch viel in Kneipen und Klubs rum, so habe ich oppositionelle Leute kennengelernt. Das war mal so ein Umwelt-Typ oder einer, der fragte: „Rosa Luxemburg, kennst du die?“ Und dann war ich ja mit dem Kabarett sowieso kritisch unterwegs. Wir haben uns als Linke verstanden. Also den Staat selber nicht. Wir waren der Meinung: Das sind keine Kommunisten, das sind Arbeiterverräter. Wir dagegen fühlten uns als bolschewistische Avantgarde, als Trotzkisten, als Revolutionäre im Geiste von Bucharin und so. Das war uns schon irgendwie wichtig. Einer meiner Freunde und Mitbegründer des Kabaretts hat damals gesagt: „Ich bin zwar Genosse, aber ich trage das Parteiabzeichen nicht am Revers, sondern im Herzen.“ Also der war wirklich Kommunist, ein guter.

Mitte/Ende 1988 begannen dann in Leipzig die ersten oppositionellen Aktionen. Zur Dokfilmwoche haben wir das erste Ding gemacht. In der DDR war gerade die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ verboten worden, wegen eines Artikels über den Hitler-Stalin-Pakt. Vorm Kino „Capitol“ ließ eine kirchliche Gruppe Luftballons fliegen, wo ‚Sputnik‘ draufstand. Die Stasi hinterher, mit dem Regenschirm haben sie versucht, die Luftballons zu zerstechen… Die haben auch mal einem von uns aufs Maul gehauen. Also, das war schon nicht ohne. Und dann gab‘s am 15. Januar den Liebknecht-Luxemburg-Marsch, da war ich dann auch dabei. Das war die größte Demonstration seit dem 17. Juni 1953. Beim Pleiße-Gedenkmarsch, da ging‘s um die Umwelt, aber auch um Meinungsfreiheit. Dann häuften sich langsam Aktionen wie das Straßenmusikfestival am Thomaskirchhof im Juni 1989. Da war ich auch dabei, einen Steinwurf entfernt vom Geschehen stand ich hinter den Fotografen. Ich wusste ja nicht, sind die von uns oder von der Stasi.

Wie würden Sie Ihre Rolle während der Proteste beschreiben?
Ich selber war dabei wie ein Zeitzeugen-Journalist, der keinen Fotoapparat mithat, aber die Bilder im Kopf speichert. Zum Beispiel von der Einkesselung der Teilnehmer des Straßenmusikfestivals durch die Polizei. Danach wusste ich: Die werden den Staat verteidigen, wenn’s sein muss, auch gegen das eigene Volk. Nach dem Straßenmusikfestival habe ich meinen Ausreiseantrag dann auch gedanklich gestellt. Bis dahin war ich ein DDR-Bürger, der eigentlich lieber bleiben will, doch nun betrachtete ich mich als im Exil lebend hier in Leipzig. Ja, und dann wurde das im Sommer 1989 auf dem Nikolaikirchhof immer größer und immer interessanter. Neben dem „Wir wollen raus!“ gab’s auf einmal auch den Spruch „Wir bleiben hier!“. Da war ich live dabei, als der erfunden wurde. Nachdem die „Tagesschau“ darüber berichtete, kamen am nächsten Montag noch viel mehr Leute. Teilweise standen sie hinter der Absperrung, teilweise auf dem Nikolaikirchhof, immer mit Polizeiketten dazwischen. Am 2. Oktober haben die dann so ‘ne Kette aufgemacht, als der Druck von außen zu stark wurde. Was passierte? Die Zuschauer solidarisierten sich mit uns, und wie von Geisterhand zog ein Demonstrationszug los über den Augustusplatz, damals Karl-Marx-Platz. Ich stand da auf der Treppe vor der Oper und konnte es nicht fassen: Der Platz schwarz vor Menschen. Und alle waren sich einig: „Das kriegen die nie wieder in den Griff!“

Vier Tage vor der entscheidenden Demo am 9. Oktober wurde Ihr Ausreiseantrag genehmigt …
Ja, am 5. Oktober war es soweit. Ich hab noch zu meinen Kabarett-Leuten gesagt: „Ich würde ja gerne bleiben. Ich hätte auch in Mecklenburg einen Unterschlupf. Aber ich glaube, dass die am 9. Oktober schießen werden.“ Denn wenn die zulassen, dass der Demonstrationszug einmal um den Ring läuft, dann ist die Demonstrationsfreiheit da. Damit ist die Meinungsfreiheit gegeben, dann kommt als nächstes die Pressefreiheit. Danach die Forderung nach Reisefreiheit. Und bei der Reisefreiheit ist die Existenz des Staates DDR infrage gestellt.

Im Westen haben Sie sich entschieden, nach Leipzig zurückzukehren…
13 Tage nach meiner Ausbürgerung ist Honecker zurückgetreten. Da dachte ich, das kann doch nicht wahr sein: Die ganze Zeit halte ich durch. Und jetzt, wo das Arschloch zurücktritt, darf ich nicht mehr rein in die DDR! Die spinnen doch wohl. Wir durften dann endlich am Heiligabend visafrei wieder rein. Bis März 1990 bin ich noch gependelt, mal vier Tage Frankfurt, dann wieder drei Tage Leipzig. Und dann hab ich gesagt: Ich komme zurück. Denn hier sind die Freiräume. Im Westen ist alles schon fertig und verteilt, aber im Osten hast du noch die anarchische Möglichkeit, was zu machen als freier Künstler. Und genauso ist es gekommen.

Der Text wurde bearbeitet und gekürzt von Wolfgang Leyn.

Geschichte in Geschichten (Teil 2) – Schüler fragen Zeitzeugen: Gerd Klenk

Wie im vorigen Gohlis Forum angekündigt, können Sie hier unser erstes Zeitzeugeninterview lesen, aus Platzgründen redaktionell gekürzt. Das gesamte Interview finden Sie später auf unserer Homepage. Alle neun Interviews wurden im Sommer 2020 von Schülern der Schillerschule im Rahmen eines Gemeinschafts-Projekts mit dem Bürgerverein Gohlis geführt. Wie haben Friedliche Revolution und deutsche Einheit das Leben der Zeitzeugen verändert? Wofür haben sie sich engagiert? Was wurde erreicht, was nicht?

Von Maximilian Mehlhorn, Martin Opitz und Jamal Ziegler

Geboren 1949, studierte Gerd Klenk nach Schule, Berufsausbildung und Abitur an der Volkshochschule an der TH Leipzig, arbeitete ab 1986 im volkseigenen Betrieb „Forschung und Rationalisierung“ im Süßwarenkombinat und engagierte sich in der kirchlichen Umwelt- und Friedensarbeit. 1989 wurde er Vertreter des Friedenskreises Gohlis im „Synodalausschuss für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Kirchenbezirk Leipzig-Ost“. Nach Konkurs des Betriebes nach der Währungsunion 1991 wurde er Projektleiter in Beschäftigungsgesellschaften und später Migrations- und Schuldnerberater beim Caritas-Verband. 1992 gründete er mit anderen Gohliser*innen den Bürgerverein Gohlis; von 1998 bis 2014 war er dessen Vorstandsvorsitzender.

Herr Klenk, wie haben Sie die Friedliche Revolution miterlebt?
Ich habe sie aktiv miterlebt als Mitglied des Friedenskreises Gohlis, der am 9. Oktober 1989 das Friedensgebet in der Nikolaikirche gestaltete mit dem geänderten Thema „Volkes Stimme wollen wir sein“. Geändert deshalb, weil wir in der Zeitung als Konterrevolutionäre bezeichnet wurden. Wir forderten deshalb den Dialog mit allen Schichten der Gesellschaft. Die Situation war sehr brenzlig, wir hatten alle Angst, konnten aber nicht mehr zurück. Frau und Kinder blieben zu Hause. Man befürchtete – das war ja vorher angekündigt – der Polizei-Einsatz wird blutig. Viele Genossen waren in der Nikolaikirche, die noch nie in der Kirche waren und viel ängstlicher waren, als wir, logischerweise. Die kannten das ja nicht. (…) Der Pfarrer der Markusgemeinde und Initiator der Friedensgebete, dessen Aufruf „Keine Gewalt“ von allen Basis- und Friedensgruppen immer weitergetragen wurde, lieferte einen wichtigen Beitrag, um eine Eskalation zu verhindern. Im Synodalausschuss für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung waren auch Vertreter von Basisgruppen, die nichts mit Kirche am Hut hatten. (…) Das war immer schwierig mit denen, da sie eigentlich nur ihren politischen Protest zum Ausdruck bringen wollten. Diese Gruppen bestanden meist aus Ausreisewilligen. (…)

Wie standen Sie den damaligen Ereignissen gegenüber?
Ja, das war ‘ne ziemlich dramatische Zeit, und man hatte dabei natürlich Ängste, aber auch Hoffnungen. Nach dem 9. Oktober wurden alle Basisgruppen- und Friedensgruppenvertreter eingeladen ins Rathaus. Und da merkten wir, dass man versuchen wollte, uns zu überreden, dass wir Einfluss nehmen, dass der Dialog nicht durch Demos auf der Straße geführt wird, sondern geordnet eben in Häusern. Man dachte, man könnte es noch ändern, indem man den Kopf der Führung wechselte, durch Egon Krenz. Aber das war dann alles zu spät. Und was ich bedauere, ist: die meisten Leute hatten dann nur noch die D-Mark im Kopf. „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“. Das war eigentlich nicht unser Ansinnen. Die Friedensbewegung wollte etwas Neues, eine Gesellschaft, die nicht so stark auf Konsum orientiert ist. Und wenn eine Vereinigung kommt, dann wollten wir uns da auch mit einbringen können, damit es etwas Gesamtdeutsches wird. Das ist es ja dann leider nicht geworden.

Was haben Sie sich für den neuen Abschnitt nach der Wiedervereinigung erhofft?
Ich hatte mir zumindest erhofft, dass die ostdeutsche Seite sich auch ein Stück mit einbringen könnte, dass der Wiedervereinigungsprozess nicht so verläuft, wie er dann verlaufen ist, also in einer Vereinnahmung, sondern zum Beispiel, dass man eine neue Verfassung vorschlägt; es gab ja nur das Grundgesetz. (…)
Wir wollten mehr. Und ich kenne auch viele in den alten Bundesländern, die wie wir gehofft hatten, dass diese Wiedervereinigung auch für sie eine Veränderung bringt, dass da was Neues entsteht, etwas Gemeinsames. (…)

Hätten Sie damals gedacht, dass es auch heute, 30 Jahre später, noch solche Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland geben wird?
Ich hätte nicht gedacht, dass es noch solche gewaltigen Unterschiede geben würde. Ich hätte mir eher gewünscht, dass wir – wie bei Fridays for Future – uns in eine positive Richtung engagieren, um die Gesellschaft zu verändern bei Themen wie Militarisierung und Umweltschutz und genauso Kapital und Konsum. Die ganze Gesellschaft ist ja sehr stark konsumorientiert. Aber Konsum ist ja nicht das Wichtigste. (…)

Was hätten Sie, wenn Sie damals Mitglied in der Regierung gewesen wären, anders gemacht?
In der Demokratie geht es ja immer darum, Mehrheiten zu bilden, das ist ja das Schwierige, und das war ja damals auch so, wenn ich keine Mehrheit habe, dann kann ich natürlich auch bestimmte Dinge nicht durchsetzen, wie im sozialen Bereich und beim Umweltschutz, obwohl das für die nächste Generation ein ganz wichtiges Thema ist. (…)

Was hätten Sie gern aus der DDR mit in die neue Zeit mitgenommen?
Löhne und Renten waren niedrig, aber auch die Mieten. (…) Gut war, dass in der DDR fast jeder einen Kindergartenplatz gekriegt hat. Außerdem das einheitliche Bildungssystem, auch wenn es negativ politisch belastet war. Wenn ich zum Beispiel von Leipzig nach Rostock gezogen bin, brauchte mein Kind nicht plötzlich neue Schulbücher, weil der Lehrstoff an der Schule dort anders ist als hier. Und natürlich die Zuschüsse für Grundnahrungsmittel. Eigentlich brauchte niemand Existenzangst zu haben.

Fazit

Das Interview mit Gerd Klenk war sehr interessant und aufschlussreich. Man lernt zwar in der Schule einiges über die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung, aber das alles ist rein objektiv. Die subjektive Meinung einer einzelnen Person, in unserem Falle Gerd Klenk, ist da nochmal was Anderes. Wir haben einige neue Dinge erfahren, die uns teilweise auch sehr überrascht haben. Wir können die Methode des Zeitzeugen-Interviews zum Thema Friedliche Revolution und Wende nur empfehlen, solange es noch möglich ist und Zeitzeugen leben.

(Der Text wurde bearbeitet und gekürzt von Ursula Hein, Wolfgang Leyn und der Redaktion)

 

Jahr der Industriekultur – Gohlis und die Spieldosen-Industrie

Von Birgit Heise

den Flyer mit dem kompletten Programm finden Sie hier zum download

Unter dem Thema „Gestanzte Musik“ geht es am letzten August-Wochenende in der Musikschule Neue Musik in der Eisenacher Straße 72 um Leipzig-Gohlis als Zentrum der Musikautomaten-Produktion mit Lochplatte um 1900. Auf dem Programm stehen Fachvorträge, Stadtteilrundgänge und Vorführungen historischer Instrumente. Außerdem können Besucher eigene Spieldosen begutachten lassen.

Manch einer hat es noch zuhause: ein mechanisches Musikinstrument mit gelochten runden Platten aus Pappe oder Blech. Man muss es aufziehen oder ständig an einer Kurbel drehen, dann erklingt eine vielstimmige Melodie. Nach einer Plattenumdrehung, also nach etwa einer Minute, ist es jedoch schon wieder vorbei damit bzw. das Stück beginnt von vorn.

Lochplatten-Spielwerke wurden 1881 von Paul Ehrlich in Leipzig erfunden und in Gohlis zu tausenden gebaut. In allen Größen und Formen erhältlich, verbreiteten sie sich rasant bis an den Amazonas und nach Australien. Unter schön klingenden Markennamen wie „Symphonion“, „Phönix“ oder „Ariston“ avancierten sie zu weltbekannten Musikautomaten für jedermann.

In den ehemaligen „Symphonion-Werken“ in der Eisenacher Straße 72 befindet sich heute die Musikschule Neue Musik Leipzig. Mit viel Sorgfalt wurden die Räume so ausgebaut, dass die frühere Fabrikation noch deutlich sichtbar geblieben ist. Hier geht es vom 27. bis zum 30. August um „gestanzte Musik“. Gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen veranstaltet der Förderkreis Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig e.V. in Kooperation mit dem Bürgerverein Gohlis im „Jahr der Industriekultur 2020“ eine Serie von Veranstaltungen rund um die Gohliser Lochplatte.

Unter Einhaltung der Hygienevorschriften wird es am historischen Ort mehrere Veranstaltungen geben, von Referaten über Stadtteil-Führungen und Museumsbesuchen bis hin zu einem ganz besonderen Tag: Am Sonntag, dem 30. August, werden private Sammler ihre Lochplatten-Spielwerke klingend vorführen und erläutern. Insbesondere präsentiert dann Jost Mucheyer eine ausgewählte Kollektion. Er ist der Inhaber des größten Museums für mechanische Musikwerke in der Umgebung von Leipzig, mit Sitz in der Eisenmühle Elstertrebnitz.

Von 11 bis 17 Uhr können interessierte Bürger an diesem Tag nicht nur die gezeigten Instrumente bestaunen, sie dürfen auch ihre eigenen Spieldosen zur kostenlosen Begutachtung mitbringen. Die genauen Termine aller Veranstaltungen finden Sie zu gegebener Zeit auf Plakaten, in der Presse sowie auf diesen Webseiten: Universität Leipzig, Musikwissenschaft und Jahr der Industriekultur 2020.

Zum Weiterlesen empfiehlt die Autorin ihren reich bebilderten Katalog „Leipzigs klingende Möbel“, der 2015 im Verlag Kamprad Altenburg erschien.

Geschichte in Geschichten: Schüler fragen Zeitzeugen – im Garten

Von Ursula Hein und Wolfgang Leyn

In der Online-Ausgabe des Gohlis Forums wurde das Zeitzeugen-Projekt der AG Stadtteilgeschichte mit dem Schiller-Gymnasium Ende April ausführlich vorgestellt. Nachzulesen ist der Artikel online im Archiv des Gohlis Forums.

Wende und Einheit haben 1989/90 im Westen Deutschlands wenig, im Osten aber fast alles verändert. Neun Zeitzeugen aus Gohlis – ein Pfarrer, eine Kinderärztin, ein Ingenieur, eine Politikerin, ein Musiker, ein Lehrer, eine Journalistin, ein Kabarettist und eine Sparkassen-Filialleiterin – sprechen darüber mit Schülerinnen und Schülern der Klasse 10/1. So war es mit Herrn Geyer, dem Geschichtslehrer und Klassenleiter vereinbart.

Doch dann schienen durch Corona persönliche Treffen der Schüler-Teams mit den Zeitzeugen auf einmal unmöglich zu werden. Um unser Projekt zu retten, planten wir stattdessen Telefon-Interviews mit Smartphone. Doch dann eröffnete sich glücklicherweise doch noch eine bessere Möglichkeit. Das Budde-Haus öffnete nach mehrmonatiger Schließung wieder seine Pforten.

Dessen schöner Garten bot optimale Bedingungen für die Gespräche von Angesicht zu Angesicht – natürlich mit dem gebotenen Abstand. In einem der beiden Pavillons traf sich dann bis zum 30. Juni jeweils ein Zeitzeuge bzw. eine Zeitzeugin mit je drei Schülerinnen oder Schülern, begleitet von einem der Organisatoren. Ein Treffen, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, fand im Garten eines Privathauses in der Ehrensteinstraße statt.

Bewaffnet mit Smartphones, aber auch mit Stift und Papier, wegen der sommerlichen Temperaturen bei kühlen Getränken, kamen wir zusammen und sprachen anderthalb bis zwei Stunden lang miteinander. Die Schüler waren gut vorbereitet, stellten klug formulierte Fragen und los ging‘s. Man hatte den Eindruck, die Zeitzeugen – Frauen und Männer zwischen Mitte 50 und Anfang 80 – hätten schon lange darauf gewartet, jungen Leuten von ihren Träumen, ihren Erfahrungen und Erlebnissen zu berichten.

Die Gespräche bereicherten zum einen den Unterricht der Klasse 10/1 und brachten den beteiligten Schülern interessante Einblicke (und höchstwahrscheinlich gute Zensuren). Zum anderen können auch Sie, die Leser des Gohlis Forums, davon profitieren. In jedem der nächsten Hefte bringen wir eine neue Folge der spannenden Geschichte in Geschichten.

Denkmalpflege – Zweites Leben für eine Gohliser Wasserpumpe?

von Wolfgang Leyn

Das erste Leben der Handschwengelpumpe in der Fritz-Seger-Straße währte knapp 108 Jahre – vom September 1912 bis zum März 2020. Um 1900 standen in Leipzig, verteilt über das ganze Stadtgebiet, mehr als 280 solcher Wasserpumpen. 25 Standorte gab es allein in Gohlis. Nur wenige deutsche Städte leisteten sich den Luxus, die gusseisernen Pumpenkörper künstlerisch zu gestalten. Die heute noch erhaltenen Exemplare in Leipzig stehen unter Denkmalschutz. Rund 30 wurden seit den 1980er-Jahren restauriert, viele sind aus dem Stadtbild verschwunden, die übrigen sind mehr oder weniger stark beschädigt.

So auch die Pumpe in der Fritz-Seger-Straße, die einzige in Gohlis vom Gehäusetyp „Vogelkäfig“. Am 18. März wurde sie demontiert, um zu untersuchen, was eine Restaurierung kosten würde. Die Schüler der nahegelegenen Erich Kästner-Schule möchten ihr gern ein zweites Leben schenken. Der gemeinsam mit dem Bürgerverein Gohlis geplante Spendenlauf kann zwar wegen des Corona-Virus nicht am 15. Mai stattfinden, er wird aber nicht abgesagt, sondern ins nächste Schuljahr verschoben.

Wann das zweite Leben dieser historischen Handschwengelpumpe anbrechen wird, muss leider offen bleiben. Fest steht aber heute schon: Die Restaurierung des technischen Denkmals wird nicht billig werden. Daher sind Sponsoren unter den Anwohnern wie unter den Lesern dieser Stadtteilzeitung hoch willkommen. Der Bürgerverein wird die Initiative der Schüler, ihrer Eltern und Lehrer zum einen organisatorisch unterstützen, zum anderen eine Ausstellung über die besondere Tradition der Leipziger Handschwengelpumpen und die jeweiligen Standorte in Gohlis ausrichten.

Ein Bildbericht über den fachgerechten Abbau der Pumpe in der Fritz-Seger-Straße am 18. März durch Mitarbeiter der städtischen Bau und Service Leipzig GmbH kann in der pdf-Version des Gohlis Forum 03/2020 eingesehen werden.

 

Gesprächscafé „Mobilität in Gohlis – einst und jetzt“

Wir laden Sie herzlich ein zum Austausch von Erinnerungen an das Unterwegssein in Gohlis. Wenn Sie Zeit und Lust haben, dann kommen Sie am Mittwochnachmittag um 17 Uhr ins Musikzimmer des Budde-Hauses in der Lützowstraße 19! Bei Kaffee und Kuchen möchten wir uns mit Ihnen über das Thema unterhalten. Wir, das sind die Mitglieder der AG Stadtteilgeschichte des Bürgervereins.

Nehmen wir als Beispiel das Fahrrad. Zusammen mit dem öffentlichen Nahverkehr ist das Rad auch für Gohlis das Fortbewegungsmittel der Zukunft. Es ist umweltfreundlich, gesundheitsfördernd und platzsparend, oft sogar schneller als das Auto.

Doch Fahrräder gehören ja schon seit Jahrzehnten zum Straßenbild. Wo gab es in unserem Stadtteil vor 1990 Radwege? Welche Fahrradwerkstätten gab es damals? Wo haben Sie Ihr Rad gekauft? Was haben Sie mit ihm erlebt? Wie sind Sie zur Schule, zur Arbeit oder in den Garten gefahren?

Wir wollen uns aber nicht aufs Fahrrad beschränken. Auch andere Erinnerungen an den Straßenverkehr der Vergangenheit in Gohlis sind willkommen, mit Straßenbahn und Auto – und zu Fuß natürlich. Hintergrund ist das Thema des nächsten Jahreskalenders, den der Bürgerverein herausbringen will: „Unterwegs in Gohlis – einst und heute“. Dafür erhoffen wir uns von diesem Gesprächs-Café gedankliche Anregungen und vielleicht auch ganz konkrete Tipps oder Kontakte.

Außergewöhnliches Konzert: Marianne Kirchgessner zum 250. Geburtstag – Erinnerung an eine große Unbekannte

von Wolfgang Leyn

Die blinde Glasharmonika-Virtuosin Marianne Kirchgessner (1769-1808) wurde zu Lebzeiten in ganz Europa gefeiert. Sie gastierte u. a. in Wien, London, Berlin, Leipzig, Kopenhagen und Sankt Petersburg. Mozart komponierte für sie, Goethe hat sie geschätzt. Ihre letzten acht Lebensjahre verbrachte sie in dem kleinen Dorf Gohlis bei Leipzig, wo sie aber schon bald nach ihrem frühen Tod auf einer Konzertreise in Vergessen- heit geriet.

Spaziergang, Vorträge und Konzert
Gemeinsam mit dem Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig und dem Freundeskreis Gohliser Schlösschen erinnerte der Bürgerverein Gohlis am 27. Oktober 2019 an die vor 250 Jahren geborene Künstlerin.
Am Spaziergang auf Marianne Kirchgessners Spuren mit Elisabeth Guhr und Wolfgang Leyn vom Bürgerverein beteiligten sich am Vormittag trotz des unangenehm kühlen und windigen Nieselwetters immerhin zehn Unentwegte.
Mehr als 30 Zuhörer verfolgten anschließend im barocken Ambiente des Gohliser Schlösschens die Vorträge über das Leben der berühmten Musikerin, ihre Konzerte im Leipziger Gewandhaus, über die Pocken, welche zu ihrer Erblindung im Kindesalter führten, und über das dörfliche Leben in Gohlis zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Ungewöhnliche Klänge auf dem gläsernen Instrument
Höhepunkt war dann am Nachmittag im gut gefüllten Salon das Glasharmonika-konzert mit Bruno Kliegl (Bild). Er gehört zu den wenigen Musikern in Europa, die heute noch das Spiel auf dem einst so beliebten Instrument be-herrschen.
In den Pausen zwischen den Musikstücken von Mozart, Gluck, Beethoven oder Robert Schumann beantwortete er Fragen der Musikwissenschaftlerin Birgit Heise zur Glasharmonika. Das ungewöhnliche Klangerlebnis wurde so auf unterhalt-same Weise ergänzt durch Wissenswertes über das Instru-ment und seine Geschichte.

30 Jahre friedliche Revolution – „Wir können was bewegen!“

von Ursula Hein/Wolfgang Leyn

Drei Gohliser waren am 04.09.2019 zu Gast im Gesprächs-Café des Bürgervereins, die im Herbst 1989 (und lange davor) Mut bewiesen. Gerd Klenk, Mitbegründer und später lange Vorsitzender des Bürgervereins Gohlis, arbeitete zu DDR-Zeiten als Diplomingenieur. Seit 1986 engagierte er sich im kirchlichen Friedenskreis. „Wenn ich hier bleibe und nicht in den Westen gehe, dann will ich hier was tun!“, war seine Devise. Für die Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern. Gegen die stinkenden Abwässer in Elster und Pleiße, gegen die Dreckschleudern des Braunkohlenkraftwerks Espenhain. „Eine Mark für Espenhain“ – bei dieser Aktion des Christlichen Umweltseminars Rötha überwiesen 1987 zehntausende Menschen per Postanweisung symbolisch je eine Mark für neue Filteranlagen. Peinlich für den Staat, sagt Gerd Klenk, aber nicht zu verbieten wie eine Unterschriftensammlung.

Gehen oder Bleiben – also mit Ausreiseantrag in den Westen oder zu Hause etwas verändern, dieser Streit spaltete Familien wie Kirchgemeinden, erzählt Gotthard Weidel, damals Pfarrer an der Gohliser Friedenskirche und mit seiner Gemeinde am 09.10.1989 für das Friedensgebet in der Nikolaikirche verantwortlich. Der Friedenskreis Gohlis habe nicht die Regierung stürzen, sondern Veränderungen im Land erreichen wollen. Das im September 1989 gegründete Neue Forum nennt Weidel ein Zeichen an die Staatsmacht, dass die Leute endlich mitreden wollten. Das Land brauchte eine politische Kraft, die sich nicht mehr „am Nasenring durch die Arena ziehen ließ“.

Der Schriftsteller Reinhard Bernhof gehörte im Herbst 1989 zu den Mitbegründern des Neuen Forums in Leipzig. Er erinnert sich an Vorbehalte im Kirchenvorstand der Michaeliskirche. Politische Veranstaltungen hätten in der Kirche nichts zu suchen, bekam er zu hören. Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, ehe das erste öffentliche Auftreten des Neuen Forums in Leipzig schließlich am 08.10.1989 in dieser Kirche stattfinden konnte, 1.500 Menschen kamen. Weidel erklärt, dass jene, die sich damals ehrenamtlich im Kirchenvorstand engagierten, als Berufstätige viel stärker unter dem Druck des Staates standen als etwa ein Pfarrer. Einig ist sich die Runde, dass weder die Kirchenleute noch die SED-Mitglieder über einen Kamm zu scheren waren.

Eigentlich wollten wir die „Ausreiser“ bei den Friedensgebeten nicht dabei haben, sagt Klenk. „Wir haben sie geduldet, damit die Staatsmacht uns nicht gegeneinander ausspielt.“ Mit anderen „Hierbleibern“ gelang es ihm 1987, in Torgau beim offiziellen Olof-Palme-Gedenkmarsch mit eigenen Plakaten aufzutreten: „Gitarren statt Knarren!“ oder „Friedensdienst statt Wehrkundeunterricht!“. Das war möglich, weil Erich Honecker zeitgleich zum Staatsbesuch in der Bundesrepublik war und die Staatsführung Negativschlagzeilen in westlichen Medien vermeiden wollte.

Was ist heute von der friedlichen Revolution vor 30 Jahren geblieben? Gotthard Weidel nennt die Erfahrung, dass der Einzelne, gemeinsam mit anderen, tatsächlich etwas bewegen kann. Niemand sollte sich heute einreden lassen, die Politik von Vater Staat sei alternativlos. Stichwort Militärausgaben, Autobahnbau oder Billigflüge: „Lasst Euch nichts vormachen!“

Jan Tschichold – Ein Gohliser Junge wird zu einem wichtigen Typografen und Buchgestalter

von Ursula Hein

1902 in der heutigen Schorlemmerstraße als Sohn des Schriftenmalers Franz Tzschichhold geboren, wurde er 1914 als Zwölfjähriger durch die BUGRA, die internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Grafik, so beeindruckt, dass er sein Leben der Typografie widmete.

Nach dem Besuch des Lehrerseminars in Grimma schrieb er sich an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig ein und begann sein Studium in der Schriftklasse von Hermann Delitzsch, wurde rasch Meisterschüler und unterrichtete ab 1921 selbst in der Abendschule.

Schon zwei Jahre später feierte er seinen Durchbruch mit dem Themenheft „elementare typographie“, gab hierin einen Überblick über die verschiedenen graphischen Schulen – der sowjetischen Konstruktivisten, des De-Stijl-Kreises um Theo Doesburg und der Typographen am Bauhaus. Diesem angehörte er jedoch nie an, wurde aber von den dort wirkenden Künstlern stark beeinflusst. Das Aufbrechen der alten Typografien, die Vereinfachung, die experimentelle Arbeitsweise begeisterten ihn, ohne dass er jedoch die Traditionen der Leipziger Grafik vergaß.

1926 wurde er Lehrer an der Münchener Meisterschule für Typografie, hatte große Erfolge mit seiner reduzierten Bildsprache für Filmplakate, Buch- und Umschlagsentwürfe für den sozialistischen „Bücherkreis“, seine ersten Schriften brachten ihm eher Achtungs- als materiellen Erfolge.

1931 schuf er die Schriften Zeus, Transito und Saskia sowie die Uhertype-Standard-Grotesk für ein frühes Fotosatzsystem. Mit Kurt Schwitters und vielen anderen gründete er 1928 den „Ring neue Werbegestalter“.
Nach großen Erfolgen in den 20er-Jahren musste er 1933 mit seiner Frau Edith vor den Nationalsozialisten in die neutrale Schweiz flüchten. Dort begann seine klassisch-modernen Phase als Gegenentwurf gegen die von der NS-Propaganda vereinnahmte moderne Grafik. Man verübelte ihm in Fachkreisen dieses Verhalten, als „Typografiestreit der Moderne“ wird diese Auseinandersetzung von 1946 mit dem Bauhausschüler Max Bill bezeichnet.

Ein Vortrag vor dem „Double Crown Club“ 1937 in England brachte ihm viel Zustimmung. 1947 ging er für zwei Jahre auf die Insel, wo er in London großen Erfolg mit den Buchserien des Penguin-Verlages erzielte. Die letzten Jahre seines Lebens arbeitet er Basel, für die Pharmafirma Hoffmann-LaRoche und widmete sich auch wieder der Schriftgestaltung. Seine letzten Gelegenheitsdrucke beschäftigen sich mit historischen Flugblättern. 1974 starb er in Basel.

Nach Gohlis kam er wohl nicht wieder zurück, erhielt allerdings 1965 den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig. 2015 fand Tschicholds Nachlass dank einer großzügigen Schenkung seiner Erben seinen Weg ins hiesige Deutsche Buch- und Schriftmuseum, verpackt in 176 teils großformatigen Kisten.

Noch bis zum 6. September 2019 zeigt das Museum einen Teil dieser Schätze. Der Ausstellungskatalog „Jan Tschichold – ein Jahrhunderttypograf? Blicke in den Nachlass“ von Stephanie Jacobs und Patrick Rössler kostet 24 €.

30 Jahre Friedliche Revolution – Gesprächs-Café mit Zeitzeugen

Das nächste Gesprächs-Café des Bürgervereins Gohlis e. V. findet am Mittwoch, dem 4. September, um 17 Uhr im Gemeindehaus der Evangelisch-Lutherischen Michaelis-Friedens-Kirchgemeinde, Kirchplatz 9, statt.

Bisher hat sich die Arbeitsgemeinschaft Stadtteilgeschichte des Bürgervereins vor allem über das Alltagsleben vergangener Jahrzehnte in Gohlis ausgetauscht – über Ladengeschichten, Schulerfahrungen und ähnliche Dinge. Nun möchten der Verein anlässlich des runden Jahrestages der Friedlichen Revolution auch politische Akzente setzen.

Deshalb steht dieses Gesprächs-Café unter dem Motto „Zeitzeugen erzählen über ihr 1989 in Leipzig-Gohlis“. Was haben sie damals erhofft und
angestrebt? Und was ist in den folgenden 30 Jahren daraus geworden? Als Gesprächspartner sind diese drei Gohliser geladen:

Gotthard Weidel, Pfarrer i. R. der Friedenskirchgemeinde. Sie war am 9. Oktober 1989 für das Friedensgebet in der Nikolaikirche verantwortlich.
Reinhard Bernhof, Schriftsteller und Dichter. Er gehörte im September 1989 in Leipzig zu den Mitbegründern des Neuen Forums.
Gerd Klenk, Diplomingenieur für Elektrotechnik, 1992 Mitbegründer und später bis 2014 Vorsitzender des Bürgervereins Gohlis e. V.

Interessierte Gohliserinnen und Gohlis sind herzlich zum Gesprächs-Café eingeladen. Der Eintritt ist frei.

Ein Fund auf dem Antikmarkt – Die „Eidechse“, Erinnerungen an den Elektrokarren

von Joachim Petschat , ehemals Schlosser und Ingenieur im VEB VTA Leipzig

Auf dem AGRA-Antikmarkt wurden kürzlich Prospekte aus der Produktpalette der größten Fabrik in Gohlis, den einstigen Bleichert-Werken, angeboten. Sie weckten Erinnerungen an meine Zeit in diesem Betrieb, damals VEB Verlade- und Transportanlagen (VTA). Daran möchte ich Sie teilhaben lassen.

Elektrokarren – 1923 patentiert
Da zurzeit die Diskussion über das Elektroauto läuft, schreibe ich über meine Erlebnisse mit der berühmten Bleichert-Eidechse, die mit Elektroantrieb fuhr. Unsere Altvorderen haben dieses Fahrzeug schon in den 20er-Jahren eingesetzt. Abgase in den Werkhallen waren auch damals ein Problem. Das Patent auf den Elektrokarren „Eidechse“ wurde der Firma 1923 erteilt. Angeboten wurde er mit Vollgummi- und Luftreifen, ohne Federung, vorgesehen für innerbetrieblichen und öffentlichen Straßentransport. Laut Prospekt wurden sogar Eisenbahnwaggons damit versetzt. Auf dem Leipziger Hauptbahnhof konnte man solche E-Karren beim Gepäcktransport mit z. T. halsbrecherischer Fahrweise noch lange erleben.

Die Eidechse wurde von 1924 bis in die 60er-Jahre in großen Stückzahlen hergestellt. Für fast alle betrieblichen Transporte gab es passende Varianten bzw. Zusatzgeräte. Noch im Juli 1964 musste ich als Zwischenprüfung in der Schlosserlehre im Lehrwerk der Betriebsberufsschule Handräder für die Schaltung komplett montieren. Sie wurden damals auf Bestellung als Ersatzteile geliefert.

Die Wippenlenkung der Eidechse war gewöhnungsbedürftig. Fuhr man auf einer Seite durch ein Schlagloch, konnte man hochgeschleudert werden. Auch bei Notbremsung war ein Sturz möglich. Aus Gründen der Arbeitssicherheit wurden die Eidechsen später mit einem Seitenschutz versehen. Ob vorn eine Tür war, wie bei der dieselbetriebenen „Ameise“, ist mir nicht mehr erinnerlich, ebenso wenig, wie bei der Eidechse der Fahrtrichtungswechsel angezeigt wurde.

Mit der Eidechse im Straßenverkehr
Da ich an der Betriebsberufsschule den Lkw-Führerschein erworben hatte, erhielt ich die Fahrerlaubnis 2 E und durfte die Eidechse auch im öffentlichen Straßenverkehr fahren, meist zwischen den Betriebsteilen in Eutritzsch und Gohlis sowie in die Außenlager, um Ersatzteile hinzuschaffen oder abzuholen, in diesem Fall auf Luftbereifung. Meine weiteste Fahrt war die zum Ersatzteilhandel in Taucha.

In der Spätschicht wurden im Werk 2 in Eutritzsch manchmal kleine Rennen gefahren. Ärgerlich war es, wenn man nicht auf die Ladung der Batterie geachtet hatte und deshalb liegenblieb. Dann musste man unter dem Gespött der Kollegen zur Ladestation abgeschleppt werden. Und die war zum Schichtende hin immer belegt. Gewartet wurden die Batterien der Eidechsen in der Kugelschaufler-Halle in Eutritzsch, was damals bedeutete: Platten und Säure ersetzen. Beim Betreten der abgetrennten Station verschlug es einem wegen der Säuredämpfe den Atem. Aber der damalige Batteriewart Hugo hat dort sogar gefrühstückt! Dankenswerterweise hat er mir auch meine private Motorradbatterie mit gewartet.

Leider verschwanden die umweltfreundlichen Eidechsen nach und nach aus beiden VTA-Werksteilen in Gohlis und Eutritzsch. Schade! Die Produktion von Elektrokarren wurde im Rahmen des Rates der gegenseitigen Wirtschaftshilfe nach Bulgarien verlagert. Im Museum Eisenmühle Elstertrebnitz kann man ein fahrbereites Exemplar einer Eidechse besichtigen, allerdings vom westdeutschen Bleichert-Ableger und Konkurrenten in Köln.

Gut besuchtes Gesprächscafé der AG Stadtteilgeschichte

Die AG Stadtteilgeschichte des Bürgervereins hatte für den 16. Oktober zum Gesprächscafé in die Vereinsräume in der Lindenthaler Straße 34 eingeladen. Frau Bethmann von der AG hatte in ihrem Bekanntenkreis für die Veranstaltung geworben, weitere Interessentinnen hatten sich beim Sommerfest des Bürgervereins gemeldet. Und nun saßen ein gutes Dutzend Gäste an der den Kaffeetafel und erzählten über das Geschäftsleben seit den 60er-Jahren in Gohlis, etliche von ihnen mit Erfahrungen auf beiden Seiten des Ladentischs – als Kundinnen, aber auch als Blumenhändlerin, Sparkassenangestellte, Optikerin, Uhrmacherin oder Apothekerin.

Nach zwei Stunden angeregter Unterhaltung waren sich die Damen (und die wenigen anwesenden Herren) einig, dass das nicht das letzte Treffen in dieser Runde gewesen sein sollte. Die AG Stadtteilgeschichte will die Gesprächsaufzeichnungen nutzen, um das Gohliser Online-Lexikon zu ergänzen. Das Gohlis Forum wird zu gegebener Zeit über die Ergebnisse informieren.

An dieser Stelle eine Bitte an Sie: Unsere Arbeitsgemeinschaft sucht Fotos von früheren Geschäften, Eisdielen, Gaststätten usw. in Gohlis. Falls Sie welche haben sollten, wäre es nett, wenn Sie dem Bürgerverein Bescheid geben könnten.

Wolfgang Leyn

AG Stadtteilgeschichte lädt zum Gesprächscafé

Die AG Stadtteilgeschichte des Bürgervereins trifft sich am 16.10.2018 ab 17 Uhr in den Vereinsräumen in der Lindenthaler Straße 34 zum Gesprächscafé. In lockerer Runde und bei einem Kaffee sollen Erfahrungen und Geschichten über alte Gewerbetreibende und deren Standorte sowie den heutigen Besitzerinnen und Besitzern ausgetauscht werden. So möchte die AG den Wandel des Stadtteils in Bezug auf das Geschäftsleben näher beleuchten.

In diesem Zusammenhang möchten wir noch einmal auf unser Dauerprojekt des Gohliser Onlinelexikons hinweisen und zur Teilnahme aufrufen. Unter http://www.gohlis.info/ortslexikon-gohlis/ kann eingesehen werden, welche Themen wir bisher abgedeckt haben. Das dies nicht allumfassend ist, dürfte klar sein. Wir sind aber über Ideen zu Themen oder sogar der Zuarbeit von Texten und Bilder dankbar. So können wir Gohliserinnen und Gohlisern zeigen, welche bewegte Geschichte ihr Stadtteil hat.

AG Stadtteilgeschichte trifft sich wieder

Die Arbeitsgemeinschaft Stadtteilgeschichte trifft sich 2018 wieder, nachdem im letzten Jahr die Arbeit am inzwischen ausverkauften Jubiläumsbuch alle Kräfte gefordert hatte. Das erste Treffen fand am 28.02.2018 in den Räumen des Bürgervereins Gohlis statt. Besprochen wurden zwei Veranstaltungen, die nun im Mai und Juni als Lesung bzw. Vortrag geplant sind (vgl. Rückseite dieses Heftes) sowie die weitere inhaltliche Arbeit mit den Schwerpunkten „Ausstellung zu 30 Jahren friedlicher Revolution 2019“ und „Online-Lexikon“. Das Online-Lexikon wächst inzwischen kontinuierlich an, Sie finden die Beiträge auf der Internetseite des Bürgervereins unter http://www.gohlis.info/ortslexikon-gohlis.

Wer es lieber gedruckt mag – diese und weitere „Gohliser Historische Hefte“ sind im Bürgerverein noch zu haben: Heft 6: Manfred Hötzel, Dieter Kürschner: Straßennamen in Gohlis. Geschichte und Erläuterungen, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Bürgerverein Gohlis e.V. 2011, Broschur 154 S., u.a. Plan von Gohlis um 1930, Preis: 9,50 Euro; Heft 8: M. Hötzel, S.W. Krieg (Hg.); U. Krüger, F.U. Schulz, O. Werner: Adolf Bleichert und sein Werk. Unternehmensbiografie – Industriearchitektur – Firmengeschichte, Sax Verlag Markkleeberg, 3. korrigierte Auflage 2012, Broschur 144 Seiten, Preis 12,00 Euro
Matthias Reichmuth

19. Juni um 19.00 Uhr: Julius Wilhelm von Pittler – ein Technik-Pionier aus Leipzig!

Über den Lebensweg dieses Mannes, der von 1886 bis 1904 in der Böttcherstraße (heute Lindenthaler Straße) in Gohlis wohnte, 1889 die „Maschinenfabrik Invention W. von Pittler“ in der Möckernschen Straße 6 gründete und damit den Grundstein für die spätere Pittler-Werkzeugmaschinenfabrik in Leipzig-Wahren legte – darüber spricht in seinem Vortrag Horst Pawlitzky am 19. Juni 2018 um 19.00 Uhr in der Lindenthaler Straße 34 im Vereinsbüro des Bürgervereins Gohlis e.V.
Unterstützt von einer Präsentation mit vielen Bildern stellt er dar, dass es sich bei von Pittler nicht nur um einen tüchtigen Geschäftsmann handelte, sonden auch um einen hervorragenden Erfinder, der auf ca. 200 Patente verweisen kann.

„700 Jahre Gohlis“ ausverkauft

Von Matthias Reichmuth

Im August 2017 brachte der Bürgerverein Gohlis in Zusammenarbeit mit dem Sax-Verlag ein umfangreiches Buch zur Stadtteilgeschichte mit dem Titel „700 Jahre Gohlis“ heraus. Die 750 gedruckten Exemplare der ersten beiden Auflagen sind nun seit Anfang Februar restlos ausverkauft – ein großer Erfolg, denn alle bisherigen Publikationen des Bürgervereins wurden über einen wesentlich längeren Zeitraum verkauft, viele sind auch noch verfügbar, etwa „Straßennamen in Gohlis“. Eine ursprünglich vorgesehene dritte Auflage des erfolgreichen 700-Jahre-Buchs kommt nun allerdings nicht zustande. Hauptursache dafür war die fehlende Vertragssicherheit: Von den über 40 Autoren hatten auf mehrfache Nachfrage nur etwas mehr als die Hälfte ihr schriftliches Einverständnis erklärt, dass ihre Texte auch für eine dritte Auflage genutzt werden dürfen. Zudem wäre – auch mit Beteiligung des Verlags – die Finanzierung wieder schwierig geworden, denn für die dritte Auflage wären auch wieder rund 10.000 Euro an Druckkosten angefallen. Diese hätten – selbst bei Beteiligung Dritter – einen Großteil der finanziellen Mittel des Bürgervereins auf Dauer gebunden, da die Nachfrage nach dem Buch nie wieder so stark wie beim Sommerfest 2017 ausgefallen wäre.

Immerhin können wir Sie auf das Gohliser Online-Lexikon verweisen, das Sie über die Homepage des Gohliser Bürgervereins (www.gohlis.info) einsehen können und zwar unter der Rubrik „Arbeitsgemeinschaften“. Mit der Hoffnung, Ihnen damit einen würdigen Ersatz anbieten zu können, wünschen wir uns ein Wiedersehen mit allen Interessenten auf unserer Homepage.

Gohlis in Geschichte und Gegenwart ist online!

Von Ursula Hein und Matthias Judt

Zum Jahreswechsel war es soweit: „Gohlis in Geschichte und Gegenwart“, unser Online-Geschichtsbuch zu unserem Stadtteil, ist im Internet verfügbar. Gedacht als work in progress, als in Arbeit befindlich, stehen erste Texte zur Verfügung und werden fortlaufend erweitert und durch weitere ergänzt. Für das interaktive „Buch“ sind alle heutigen und früheren Gohliserinnen und Gohliser eingeladen, eigene Texte zu verfassen oder auch nur der Redaktion interessante Fakten mitzuteilen, die weiter verarbeitet werden können. Im nächsten Heft des Gohlis-Forums, das im März erscheinen wird, werden wir selbst „in die Runde“ Fragen stellen: Was wir noch nicht wissen und was wir meinen, dass es in Erfahrung gebracht werden sollte. Machen Sie also mit an Ihrem Internet-Geschichtsbuch zu Ihrem Stadtteil!

Neustart für die AG Stadtteilgeschichte

Von Matthias Reichmuth

Der Bürgerverein Gohlis lädt alle Mitglieder und Interessierten aus Gohlis zu einem ersten Treffen der Arbeitsgemeinschaft „Stadtteilgeschichte“ im Jahr 2018 ein. Nachdem die AG Stadtteilgeschichte in den drei letzten Jahren fast ausschließlich an der Redaktion unseres großen Jubiläumsbuchs beschäftigt hat, soll nun ein neuer Anfang mit neuen Themen gemacht werden. Wir laden Sie daher ein, am Mittwoch, den 28.02.2018 um 19 Uhr in die Räume des Bürgervereins Gohlis (Lindenthaler Straße 34) zu kommen. Die Sitzung soll drei Schwerpunkte erhalten: 1.) Gohlis 1989, mögliche Ausstellung zur friedlichen Revolution, 2.) Weiterführung des begonnenen Online-Lexikons, 3.) Ideen der anwesenden Personen zur Stadtteilgeschichte. Wir freuen uns auf Ihr Kommen!