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Projekte

KUNSTTANKER in Gohlis-Mitte unterwegs zur Nacht der Kunst

von Kerstin Herrlich

Die Vorbereitungen für die „Nacht der Kunst“ am 4. September 2021 laufen auf Hochtouren. Das Festival, das sein Zentrum auf der Georg-Schumann-Straße hat, wird sich in diesem Jahr mit zwei bekannten Kulturstandorten weiter ausbreiten und somit zu einem Kunst- und Kulturfestival des Leipziger Nordens werden.

Wie im vergangenen Jahr wird es einen Prolog geben, viel Bekanntes aber auch einige neue Aktionen. Unter www.ndk-leipzig.de findet finden Sie jetzt eine Dokumentation der Nacht der Kunst 2020 und zu gegebener Zeit dann Informationen über Aktionen und Termine der diesjährigen „Nacht der Kunst“.

Das ehemalige Autohaus in der Lindenthaler Straße ist mittlerweile mit Künstlern und Kreativschaffenden voll belegt und hat einen neuen Namen. In demokratischer Abstimmung haben sich die neuen „Bewohner“ für KUNSTTANKER entschieden. Es gibt auch schon eine eigene Website. Auf www.kunsttanker.de wird sich nach und nach die ganze Crew vorstellen. Schauen Sie also vorbei und tanken Sie Kunst im KUNSTTANKER!

Kerstin Herrlich ist Galeristin im KUNSTTANKER und Mitorganisatorin der „Nacht der Kunst“

Jane’s Walk durch Gohlis-Nord wird verschoben

von Wolfgang Leyn

Eigentlich sollte hier die Einladung an Sie zum „Jane’s Walk“ durch die einstige Kasernenstadt im Norden von Gohlis und Möckern stehen, der 2020 wegen des Corona-Lockdowns ausfallen musste. Doch leider lässt sich der Bürgerspaziergang auch in diesem Jahr nicht realisieren. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die AG Stadtteilgeschichte des Bürgervereins hat die Zusage von Stadtbezirks-Denkmalpflegerin Annekatrin Merrem, den Rundgang zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen.

Sachsens zweitgrößter Kasernenkomplex entstand zwischen 1875 und 1901. Wo einst mehrere tausend Soldaten stationiert waren, wo Heeresbäckerei, Depots, Gericht, Lazarett und Militärbehörden untergebracht waren, erstreckt sich heute ein neues Quartier mit über 2 000 Wohnungen – in früheren Kasernen, Pferdeställen, Wirtschafts- und Verwaltungsgebäuden, in neu gebauten Stadthäusern oder einem sechsstöckigen Plattenbau. Da gibt es eine Menge Interessantes zu sehen und zu erfahren.

Zur Vorbereitung des Spaziergangs haben sich Ulrike und Karl-Heinz Kohlwagen vom Bürgerverein Möckern-Wahren bereiterklärt, in einem Vortrag über die wechselvolle Geschichte der Kasernen zu informieren. Nacheinander waren dort Truppen der Reichswehr, der Sicherheitspolizei, der Wehrmacht, der Nationalen Volksarmee und der Roten Armee stationiert. Eine Kaserne wird bis heute von der Bundeswehr genutzt.

Sobald wir die Termine für Vortrag und Rundgang zuverlässig planen können, werden wir Sie informieren.

Geschichte in Geschichten (Teil 5) – Schüler fragen Zeitzeugen: Matthias und Uta Schreiber

von Gabriela Lewandowski, Lina Edel und Philipp Harazin

Matthias Schreiber (Jahrgang 1958) ist seit 1981 Cellist im Gewandhausorchester, sah auf Tourneen mehr von der Welt als die meisten DDR-Bürger. Im Herbst 1989 beteiligte er sich, abwechselnd mit seiner Frau, an den Leipziger Montagsdemos. Weil er als Schüler nicht in der Jugendorganisation FDJ war, bekam er keine Zulassung zum Abitur. Dennoch konnte er in Leipzig Musik studieren. Seine Ehefrau Uta Schreiber (Jahrgang 1963), war als Kind Mitglied der Jungen Pioniere und später auch der FDJ. Zugleich engagierte sie sich in der Jungen Gemeinde. Nach dem Abitur studierte sie in Weimar Musik und ist gegenwärtig als freiberufliche Musikerin tätig.

Sie sind mit dem Gewandhausorchester auch im Westen aufgetreten. Gab es ein Konzert, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Herr Schreiber:
In meiner ersten Spielzeit vom August 1981 bis zum Juli 1982 war ich mit der Leipziger Oper zum Gastspiel in Madrid. Üblicherweise durften die Musiker damals in ihrer ersten Saison noch nicht mit auf Westreisen. Aber es ergab sich, dass damals das Gewandhausorchester eine Konzertreise hatte und parallel dazu auch die Oper. Es fehlten also Musiker, und deshalb konnte ich mitfahren. Das war wunderbar: eine Woche mit der Oper in Madrid! Wir fühlten uns wie in einer anderen Welt. Es war dort alles irgendwie bunter, und die Menschen waren locker, wie die Südländer eben sind. Wir haben auch Spätvorstellungen gegeben, mit Opern, die sehr lange dauerten, wie Wagners „Meistersänger“. Danach konnten wir nachts bis um drei in die Gaststätten gehen und draußen auf der Straße sitzen. Das alles kannten wir von zu Hause nicht. Da war es grau und trist, die Luft war dreckig und an den Häusern blätterte der Putz ab.

Klar, waren ein oder zwei Offizielle von der Stadt mit dabei, und ein paar Stasileute unter den Kollegen auch, aber wir konnten uns dort uneingeschränkt frei bewegen, wann und wie wir wollten. Während der Bahn- und Busfahrten konnten wir den „Spiegel“ lesen, das hat niemanden interessiert, auch von den Begleitpersonen nicht. Das war im Rundfunkorchester ganz anders, wie ich von einem Musikerkollegen weiß, der dort mal mit auf Tournee war. Dem wurde klargemacht, dass Westzeitschriften nicht erlaubt sind. Der DDR-Rundfunk war als staatliche Institution eben viel mehr kontrolliert als wir im Gewandhausorchester.

Zurück zu Ihrer Schulzeit. Sie wurden nicht zum Abitur zugelassen, weil Sie nicht in der FDJ waren. Wie kam es eigentlich dazu?

Herr Schreiber:
Mein Vater war Pfarrer und ich bin in einem kirchlichen Haushalt großgeworden. Meine älteren Brüder waren auch nicht bei den Pionieren und nicht in der FDJ. Da war das für mich irgendwie folgerichtig. Aber man war auch so bissel stolz drauf, dass man da nicht drin war. Dass Nachteile damit verbunden sind, das hat man dann später bemerkt. Das betraf auch nicht alle gleichermaßen. Mein ältester Bruder durfte auf die Oberschule gehen und Abitur machen, obwohl er nicht in der FDJ war. Das war alles sehr willkürlich. Verletzend war eigentlich nur, dass da Leute zum Abitur zugelassen wurden, die deutlich schlechter in der Schule waren als ich, die sich aber für drei Jahre zur Armee verpflichtet haben und über diese Schiene zum Abitur gekommen sind. Das empfand ich als große Ungerechtigkeit. Wir waren eine kleine Gruppe von drei oder vier Schülern in der Klasse, die nicht in der FDJ waren.

Und alle anderen konnten dann das Abitur machen?

Herr Schreiber:
Nein. Das muss man vielleicht erklären. Es gab die Zehn-Klassen-Schule, das war die normale Schule. Und dann gab es die Erweiterte Oberschule, da konnte man Abitur machen. Da ist man dann in der neunten Klasse hingegangen. Dort gab es eine begrenzte Platzanzahl. Also nicht jeder, der etwa den entsprechenden Notendurchschnitt hatte, konnte Abitur machen. Dafür musste man sich bewerben. Da wurde ausgewählt, zum Teil nach der sozialen Herkunft der Eltern. Denn der Staat hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, die Arbeiterklasse besonders zu fördern. Also wurden Arbeiterkinder bevorzugt. Das war auch der Grund der Ablehnung bei mir. Und das haben sie auch so geschrieben.

Frau Schreiber:
Es ging aber auch danach, was in der Wirtschaft gebraucht wurde. Nicht so wie heute, wo jeder die freie Berufswahl hat, damals ging es darum, was gebraucht wurde, das wurde ausgebildet. In der DDR waren es nur ungefähr 10 % eines Schülerjahrgangs, die Abitur gemacht haben.

Sie konnten, anders als Ihr Mann, das Abitur ablegen.
Frau Schreiber:
Mein Mann hatte als Schüler Rückhalt von seinen Eltern, und dann waren in seiner Klasse auch andere nicht in der FDJ, und er wurde relativ in Ruhe gelassen. In meiner Schule wäre das jeden Tag ein Spießrutenlauf gewesen. Das hätte ich nicht ausgehalten. Also war ich bei den Pionieren und in der FDJ. Alles hing sehr davon ab, an wen man geriet und mit wem man gerade zusammen war. Ich bin in Döbeln in die Schule gegangen, das ist liegt in Richtung Dresden, da gab es nie Westfernsehen. Und dort war der Kreisschulrat ein ganz scharfer Hund.

Herr Schreiber:
Die Lehrer, die ich hatte, waren sehr verschieden. Manche haben viel Wert darauf gelegt, dass alles ideologisch richtig ist. Aber wir hatten auch einen ganz tollen Deutschlehrer. Da gab es schon Freiräume. Es war nicht alles so schwarz-weiß, wie es heute manchmal erscheint. Da kam sehr viel auf die Persönlichkeit der Lehrer an.

Wussten Sie damals, als Sie nicht zum Abitur zugelassen wurden, schon, dass sie Musiker werden wollen? Oder ist das dann erst später gekommen?

Herr Schreiber:
Das kam erst später. Ich hatte zunächst eine andere Berufsvorstellung. Ich hatte auch eine Lehrstelle. Das war damals anders als heute. Es gab in dem Kreis, in dem man wohnte, eine bestimmte Zahl an Lehrberufen, und wenn da nichts dabei war, was einem gefiel, dann hatte man Pech und musste trotzdem irgendwas davon machen. Es war undenkbar, dass man sagte: Ich mache erstmal gar nichts. Oder ein Auslandsjahr, das sowieso nicht. Oder ich ziehe irgendwohin und nehme mir eine Wohnung, weil es dort eine Lehrstelle gibt, die mir vielleicht gefällt. Das war undenkbar, es gab ja auch keine Wohnung. Also, ich hatte eine Lehrstelle, das hat mich auch interessiert, so Elektronikkram, also, was damals so Elektronik war. Ich habe die Lehre aber dann nicht angetreten. Wir haben zu Hause viel Musik gemacht, und mein ältester Bruder hat auch Musik studiert. Und ich hab dann einfach ordentlich geübt und es war wohl ausreichend. Jedenfalls dafür, dass ich meine Aufnahmeprüfung geschafft habe.

Eigentlich brauchte man doch das Abitur, um zu studieren. Und Sie hatten keins.

Herr Schreiber:
Das Abitur ist grundsätzlich die Voraussetzung. Zu Kunststudiengängen, also Musik, Malerei, Grafik, Fotografie usw. kann man aber auch ohne Abitur zugelassen werden. Das ist auch heute noch so.

Frau Schreiber:
Es gibt eine Klausel, dass man auf Grund besonderer Begabung auch ohne Abitur studieren kann. Früher war das bei den Musikstudenten in der DDR gar nicht so selten. Viele waren zuvor auf einer Spezialschule. Das war so ein Aussieben der Talente schon in der Kindheit, ähnlich wie in den Sportschulen. Eine andere Variante war, dass man bis zur zehnten Klasse in die Schule ging und sich dann für ein Musikstudium bewarb. Wenn man gut genug war, bekam man ein Vorstudienjahr. Das heißt, man war schon an der Hochschule, wenn auch noch kein richtiger Student. Man hatte noch ein bisschen Schulunterricht in zwei oder drei Fächern. Der Rest waren schon vorbereitende Fächer fürs Studium. Danach kam man dann ins erste Studienjahr.

Eine Frage zum Herbst 1989. Sie haben sich damals an den Montagsdemos beteiligt. Woran erinnern Sie sich?

Herr Schreiber:
Meine Frau und ich, wir sind abwechselnd zu den Montagsdemonstrationen gegangen. Damit immer einer für die Kinder da ist. Man wusste ja am Anfang nicht, wie es ausgeht, ob man wieder heimkommt. Am 9. Oktober gab es viele Gerüchte. Dass unheimlich viel Bereitschaftspolizei und Panzer zusammengezogen wurden, dass man in den Krankenhäusern zusätzliche Blutkonserven bereitgestellt hätte, dass sich Ärzte auf Schussverletzungen vorbereiten sollten. Und alles solche Sachen. Das war schon beängstigend.

Können Sie sich erklären, warum die Sicherheitsorgane dann doch nicht zugeschlagen haben?

Frau Schreiber:
Ich denke, da kam vieles zusammen. Da gab es ja namhafte Leute, die sich mit ihrer Person gegen ein gewaltsames Vorgehen gestellt haben. Der Aufruf der Leipziger Sechs, der über den Stadtfunk verbreitet wurde. Ganz wichtig war, dass sich die Demonstranten nicht zu irgendwelchen Gewalttaten hinreißen ließen. Die waren ja vorher in den Kirchen gewesen, bei den Friedensgebeten wurden sie eingestimmt darauf. Gegen die Friedfertigkeit, die von den Demonstranten ausging, waren Polizei und Armee irgendwie machtlos. Das war eine Erfahrung, die mir immer noch eine Gänsehaut macht.

Welche Veränderungen haben Sie sich damals am meisten gewünscht?

Frau Schreiber:
Mir war ganz wichtig, frei zu entscheiden, wie ich leben möchte und wo ich leben möchte. Reisen zu können. Zu entscheiden, wen ich treffen und welche Bücher ich lesen möchte. Dass ich mich nicht mehr belügen lassen muss und dass ich mir die Zeitung aussuchen kann, die ich lesen will.

Herr Schreiber:
Ich habe gehofft, dass die Umweltsituation deutlich besser wird. Dort, wo ihr heute baden geht, waren ja damals Braunkohlentagebaue. Und die Kraftwerke hatten noch keine modernen Filteranlagen. Auch die Chemieindustrie in Bitterfeld und in Leuna war alles andere als sauber.

Frau Schreiber:
Zu Hause haben alle Leute mit Kohle geheizt. Ab Oktober zog dieser Kohlenrauchgeruch durch die Straßen. Von diesen ekelhaften schwefelhaltigen Kohlen. Smog, unentwegt Smog, den ganzen Winter durch…

Ist nach der Wende alles Wirklichkeit geworden, was Sie sich erhofft hatten?

Frau Schreiber:
Ich habe nicht erwartet, dass jetzt die immerwährende Glückseligkeit eintreten würde. Es gab verpasste Chancen, viele Menschen sind auf der Strecke geblieben, und um die hat sich niemand gekümmert. Viele im Osten mussten sich komplett umorientieren, verloren ihre Arbeit und hatten das Gefühl, das liegt daran, dass sie nichts taugen, dass sie nicht gut genug sind. Damals kamen ja viele Glücksritter in den Osten, die hier ihren Reibach gemacht haben. Die haben Immobilien aufgekauft. Und Firmen, die sie dann platt gemacht haben. Nachdem die Fördergelder einkassiert waren, flogen die Beschäftigten auf die Straße. Das hat nicht zur Überwindung der Spaltung zwischen Ost und West beigetragen.

Herr Schreiber:
Statistiken sagen, dass es bis heute zwischen West und Ost ein Lohngefälle gibt, ein Rentengefälle, ein Wohlstandsgefälle. Dabei muss ich sagen: Uns geht es wirklich gut. Das können nicht alle von sich sagen. Es liegt ja auch nicht immer an einem selbst. Wir haben einfach Glück gehabt, mit dem Beruf, auch mit dem großen Orchester, dass das weiterbesteht. Viele kleine Orchester wurden nach der Wende aufgelöst, da sieht es ganz anders aus.

Frau Schreiber:
Es gibt in jedem System Probleme. Aber im Grunde genommen bin ich froh und dankbar, dass wir in einem System leben, so wie es jetzt ist. Vor allen Dingen hat man das Gefühl, man kann was machen. Und es gibt Wege, irgendwie zum Besseren zu kommen. In der DDR hattest du da nicht sehr viele Möglichkeiten.

(gekürzt und redaktionell bearbeitet von Wolfgang Leyn)

In eigener Sache – Baumscheibenbepflanzung

von Tino Bucksch

Zwei Jahre hintereinander hat der Bürgerverein die Baumscheibe seines gestifteten Baumes in der Lützowstraße direkt vor dem Bürgerverein mit kleinen Blümchen bepflanzt. Es sollte somit erreicht werden, dass die oft sehr trostlosen grauen Baumscheiben – ob nun mit Bäumen bepflanzt oder nicht – kleine Aufwertungen des Stadtteils darstellen. Auch 2021 wird der Bürgerverein seine Baumscheibe wieder begrünen. Damit dies nicht der einzige bunte Flecken in dem oft grauen Asphalt der Straßenzüge im Stadtteil bleibt, möchte der Bürgerverein die Gohliserinnen und Gohliser mit einbinden. Was ist hierbei zu tun? Schlagen Sie uns unter buergerverein.gohlis@gmail.com oder zur telefonischen Sprechstunde montags bis freitags von 10 bis 17 Uhr unter 0341-20018556 Standorte oder Straßenzüge vor, die für dieses Projekt in Frage kommen. Der Bürgerverein kümmert sich um die Materialbeschaffung, Öffentlichkeitsarbeit und die Einbindung des Näheren Wohnumfeldes. Wichtigster Part kommt am Ende den Gohliserinnen und Gohlisern zu, die sich als „Gießpaten“ darum kümmern, dass dieses tolle Projekt nicht nach den ersten heißen Sommertagen beendet wird – gemeinsam können wir durch viele kleine Farbtupfer unseren Stadtteil aufwerten.

In eigener Sache – Eine Bank für Gohlis

von Tino Bucksch

Wie schon von unserem Vorstandsmitglied Ursula Hein in der dritten Ausgabe des Gohlis Forums 2020 bemängelt, gibt es in Gohlis kaum Sitzmöglichkeiten für mobilitätseingeschränkte Menschen, Seniorinnen und Senioren oder auch junge Familien. Alle möchten sich auf ihren Wegen durch Gohlis gerne einmal ausruhen. Dies ist leider kaum möglich. Der Bürgerverein möchte nun mit dem Projekt „Eine Bank für Gohlis – viele Bänke für Gohlis“ den Ruhebedürftigen helfen. Wir wollen uns gegenüber der Stadtverwaltung stark machen, planungstechnisch und finanziell Mittel und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um Sitzbänke im Stadtteil aufzustellen. Erster Schritt hierzu ist es, geeignete Standorte zu finden. Der Bürgerverein selbst hat Ideen und möchte in den wärmeren Monaten und frei von Coronaauflagen mit kleinen Testspaziergängen weitere Standorte ausfindig machen. Neben diesem Vorgehen ruft der Verein aber auch die Gohliserinnen und Gohliser auf, uns ihre Hinweise und Vorschläge zu schicken. Dazu kann der Verein per Mail unter buergerverein.gohlis@gmail.com oder zur telefonischen Sprechstunde montags bis freitags von 10 bis 17 Uhr unter 0341-20018556 kontaktiert werden.

Geschichte in Geschichten (Teil 4) – Schüler fragen Zeitzeugen: Dr. Karl Heinz Hagen

Von Valentina Michel, Alena Ackermann und Sophie Schmeiduch (Bearbeitet und gekürzt durch Ursula Hein und Wolfgang Leyn)

Dr. Karl Heinz Hagen, Jahrgang 1954, absolvierte 1973-77 bei Carl Zeiss Jena eine Berufsausbildung mit Abitur. Nach dem Pädagogik-Studium war er bis 1985 Lehrer für Geschichte und Deutsch an der 10-klassigen Polytechnischen Oberschule „Friedrich Schiller“ in Gohlis, der Turmschule. 1989 folgte die Promotion an der Uni Leipzig. 1990 wurde er vom Kollegium der Schillerschule zum Schulleiter gewählt. Gemeinsam mit Schülern und Eltern entwickelte er das Konzept eines allgemeinbildenden Gymnasiums mit beruflicher Orientierung. Doch Sachsen übernahm das gegliederte Schulsystem nach dem Vorbild Bayerns und Baden-Württembergs, das Thema war damit erledigt. 1992 wechselte er als Lehrer und Oberstufenberater ans Humboldtgymnasium, organisierte dort die ersten Schülerfirmen in Sachsen. 1995-2010 war er Referent am Sächsischen Institut für Lehrerfortbildung in Meißen-Siebeneichen, seit 2006 auch Lehrer am Beruflichen Gymnasium. Zur Zeit der Wende lebte er mit Frau und drei Kindern in Leipzig.

Gibt es etwas, das typisch für die Erziehung der Kinder in der DDR war oder für Ihr Leben als Kind oder Jugendlicher?

Typisch war, dass wir eigentlich in der gesamten Schulzeit in eine Organisation eingebunden waren. Erst die Jungpioniere und später der Jugendverband FDJ. Die waren straff organisiert, mit Uniformen und Fahnen. Das haben wir als normal betrachtet und nicht groß darüber nachgedacht. Natürlich sind wir damit in gewisser Weise beeinflusst, ja sogar vereinnahmt worden. Andererseits hatte ich eine sehr glückliche Kindheit.

Unter welchen Verhältnissen sind Sie aufgewachsen?

Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wir hatten den Wald vor der Haustür. Ich hatte einen großen Freundeskreis. Kinder waren damals unbeschwerter unterwegs, die Eltern hatten auch nicht so eine Angst um sie. Wenn wir mal mit einem aufgeschlagenen Knie nach Hause kamen, rannte niemand zum Anwalt, damit derjenige, der das Loch in der Straße zu verantworten hat, dafür bezahlen muss. Da kriegte man paar hinter die Ohren: Pass beim nächsten Mal besser auf. Das Leben der Menschen war damals von mehr Zusammenhalt geprägt. Das war aber auch dem Mangel geschuldet. Jeder hatte irgendwas, das man nicht ohne weiteres kriegte. Der eine hatte Holz, der andere hat selbst geschlachtet, das war auf dem Land so. Da hat man dann getauscht, hat sich auch gegenseitig geholfen.

Sind Ihre Träume und Ziele von damals vergleichbar mit denen der jetzt 20- oder 30-Jährigen?

Ich denke, wir waren in der gleichen Weise verrückt wie die heute 20-Jährigen, wir hatten nur andere Bedingungen. Bei uns gab es noch kein Internet, keine Handys. Wir hatten Freundinnen, Freunde. Wir haben uns nach der Schule verabredet, waren zusammen beim Jugendtanz. Was wir damals nicht hatten, das waren diese Reisemöglichkeiten, wie sie heute zum Beispiel meine Enkeltöchter haben. Wo die überall schon waren mit ihren neun bzw. viereinhalb Jahren! Aber ich frage mich manchmal, was für sie noch ein erstrebenswertes Ziel sein wird, wenn sie 20 … 25 Jahre alt sind, als Studenten. Wenn ich hätte reisen können, hätte ich das vielleicht auch gewollt. Aber das war für uns kein Thema. Ich habe an der Grenze im Sperrgebiet gewohnt. Am Zaun war die Welt zu Ende. Basta!

Würden Sie sagen, dass die Mauer heute noch in den Köpfen existiert?

Je nachdem. Die Leute haben ja ganz Verschiedenes erlebt. Manche haben überhaupt nicht verstanden, was da passiert ist. 1989 war ich 35 Jahre alt und hatte an der Uni promoviert, dann ist über Nacht alles umgekippt. Was bisher unten war, ist auf einmal oben, und du musst dich neu orientieren. Da gab’s Leute, denen ist das relativ leicht gefallen, die gingen damals über Österreich in den Westen. Manche haben sogar ihre Kinder zurückgelassen. Andere kamen mit der Entwicklung überhaupt nicht klar und sind in Depressionen verfallen. Wieder andere haben völlig euphorisch „Helmut, Helmut!“ gerufen, denen konnte es mit der Einheit gar nicht schnell genug gehen. Die Mauer in den Köpfen, die gibt es bis heute, nicht nur bei den Ostdeutschen. Wenn man in Bayern oder in Österreich mit Einheimischen zusammensitzt und ins Gespräch kommt, da staunt man, wie wenig die wissen von dem, was im Osten passiert ist. Für viele Wessis hatte man hier den Slogan: „Jung, dynamisch, erfolglos“. Eine anderer böser Spruch war: „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist das anders rum.“ Andererseits galten wir als „Jammer-Ossis“. Ich sehe die Chance, diese Vorurteile zu überwinden bei eurer Generation und der Generation meiner Kinder – ich habe selber drei erwachsene Kinder – und ich sehe, wie entspannt, wie ganz anders sie an manche Sachen herangehen. Aber ich sehe auch die Verantwortung, sich mit der Geschichte zu beschäftigen.

Zurück zu zwei Daten, dem 9. Oktober 1989 und dem 9. November. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich sage ganz ehrlich, ich habe nicht zu den mutigen Männern und Frauen gehört, die über den Ring marschiert sind, mit dem Ziel, diese DDR zu beseitigen. Ich war zu der Zeit verheiratet, hatte drei Kinder und hatte erlebt, wie die Staatssicherheit über den Lebensgefährten meiner Mutter zugegriffen hatte. Uns war nicht klar, wie der 9. Oktober ausgehen würde. Es war ein großes Glück, dass Kurt Masur und die anderen fünf, darunter der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, sich mit der Bitte an die Bevölkerung gewandt haben, die Situation nicht in Gewalt ausarten zu lassen. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Es ist bis heute ungeklärt, ob es einen Schießbefehl wirklich gegeben hat. Ich kam gegen 17 Uhr aus der Uni, da standen Autos von der Kampfgruppe und von der Armee. Die Straßenbahngleise am Augustusplatz, dem damaligen Karl-Marx-Platz, waren schon gesperrt, man musste also drüben bei der Hauptpost einsteigen. Ich hatte große Sorge, ich musste meinen Jüngsten aus der Kinderkrippe abholen. Da kamen dann Autos gefahren mit Leuten von der Staatssicherheit, die hatten Maschinenpistolen zwischen den Knien. Ich hab meinen Sohn abgeholt, wir sind nach Hause gefahren und haben gewartet, was passiert.

Der neunte November, damit hat man echt nicht gerechnet. Das war ein Versprecher von Schabowski, der einfach eine Meldung falsch interpretiert hat. Die Frage hieß: „Ab wann gilt diese Öffnung?“ und er sagte: „Ich meine, ab jetzt“. Damit war dann natürlich die Grenze offen. Kurz darauf setzte dieser Run auf das Begrüßungsgeld ein. Die Züge waren überfüllt. Meine Frau hat das einmal mitgemacht, das hat unser Jüngster fast nicht überlebt, die Leute im Zug hätten ihn beinahe zerquetscht. Zu diesem Zeitpunkt stand die Frage der deutschen Einheit noch nicht auf der Tagesordnung. Das passierte erst im Dezember 1989. Da hat dann Helmut Kohl in Dresden seine Rede gehalten, hat sein Zehn-Punkte-Programm aufgelegt und da kam dann konkret die Forderung, die beiden deutschen Staaten zu vereinigen.

Bei der großen Demonstration am 4. November 1989 in Berlin, wo auch viele Künstler gesprochen haben, ging es den meisten darum, so wie mir auch, im Sinne von Gorbatschows Perestroika diesen Staat DDR zu reformieren. Dann haben wir 1990 durch Gorbatschow diese Chance bekommen: die Einheit zum Nulltarif. Die Russen haben ihre Soldaten bis 1994 komplett abgezogen. Das war mit Kohl ausgehandelt, und Gorbatschow hat sich daran gehalten.

Welche Auswirkungen hatten Mauerfall und Einheit für Sie und Ihre Familie?

Mein Vater war damals 63. Als Meister im Zeiss-Werk war er für zehn, fünfzehn Leute verantwortlich. 1991 kam er eines Tages in die Spätschicht und man sagte ihm: „Das ist heute deine letzte Schicht, ab morgen brauchst du nicht mehr zu kommen.“ Nach 42 Arbeitsjahren. Der kam abends mit seinem Bündel nach Hause und hat ein halbes Jahr gebraucht, sich wieder zu sortieren. Meine Schwester war Zahntechnikerin in einem Krankenhaus. Das Labor wurde von einem Wessi gekauft, und als erstes wurden danach alle Frauen rausgeschmissen.

Meine Frau hat sich vor allem um die Familie gekümmert. Aber ich hatte den Ehrgeiz, mich als Schulleiter einzubringen, den Unterricht neu zu konzipieren, das Schulgebäude zu verändern. 1990 war das einzige Mal, dass in Thüringen und Sachsen ein Schulkollegium seinen Schulleiter wählen konnte, und ich bekam über 80% der Stimmen. Dann gab es 1992 eine Ausschreibung für die neuen Schulleiterstellen, weil in Sachsen die Schularten so wie in Bayern und Baden-Württemberg installiert worden sind. Damit war ich draußen und musste mich ganz neu bewerben. Nach dieser „Klatsche“ lag ich ein halbes Jahr am Boden. Da musst du dir überlegen, stehst du wieder auf und es geht weiter oder verfällst du in Selbstmitleid und ziehst dich zurück.

Würden Sie das heutige Schulsystem oder das von früher als erfolgversprechender bezeichnen?

Meine größte Erwartung war eigentlich, dass mit der Wende das Bildungssystem in ganz Deutschland verändert wird. Ich war sehr enttäuscht, dass aus dieser einmaligen Chance so wenig gemacht wurde. Beide Bildungssysteme hatten Vor- und Nachteile. Man hat leider nicht versucht, abzuwägen, was man hätte aus beiden Systemen machen können. Das DDR-System war ideologisch völlig überfrachtet und so wie es war, nicht erhaltenswert. Beim heutigen System sehe ich als entscheidenden Nachteil, dass die Entscheidung über die weiterführende Schulart nach der 4. Klasse zu früh ist. Ich glaube, mit 13 oder 14 Jahren weiß man das besser. Ihr habt natürlich am Gymnasium ab Klasse 5 ein anderes Anspruchsniveau. Andererseits habe ich auch erlebt, dass Kinder ins Gymnasium hineingeschoben wurden und dann nach der 7. Klasse abgegangen sind. An der Mittelschule galten sie dann als Loser, die das Gymnasium nicht geschafft haben. Es braucht schon für das Gymnasium eine große Leistungsvoraussetzung, Willensstärke und auch Unterstützung, damit sich ein Kind in dem Alter ordentlich etablieren kann. Ich fand die naturwissenschaftliche Ausbildung in der Breite früher besser. Heute ist in den Lehrplänen meines Erachtens zu viel Spezialwissen drin. Meine Hoffnung wäre gewesen, diese solide naturwissenschaftliche Ausbildung zu kombinieren mit Kurssystem und Wahlmöglichkeiten.

Wie haben Sie als Geschichtslehrer sich auf die neuen Anforderungen eingestellt?

Das war ganz einfach und zugleich schwierig. Einfach insofern, als es jetzt eine große Anzahl von Schulbuchverlagen gab, die uns regelrecht überschüttet haben mit ihrem Angebot an Unterrichtsmaterialien. Wenn man halbwegs interessiert war und sich gekümmert hat, dann hatte man jetzt Möglichkeiten, sich einzubringen. Damals habe ich nebenher nochmal angefangen zu studieren. Das, was wir früher gelernt hatten, war ja im Schwerpunkt DDR-Geschichte mit der Arbeiterbewegung, Marx, Lenin usw., aber zum Beispiel die Französische Revolution wurde nur gestreift. Allerdings hatten wir gelernt, ordentlich wissenschaftlich zu arbeiten. Dann habe ich mich also in die Deutsche Bücherei gehockt und neben meinem Unterricht gelesen, gelesen, gelesen. Ich habe nochmal ein gesamtes Studium für mich durchgezogen, und als ich dann am Humboldtgymnasium war und Leistungskurse hatte, da war man richtig gefordert. Ich habe von niemandem mehr verlangt als von mir selbst. Den Schülern muss man günstige Rahmenbedingungen schaffen, muss ihnen etwas zutrauen und sie laufen lassen. Genauso wie bei unseren Schülerfirmen: Wir hatten ein Schüler-Café, ein Reisebüro, einen Schreibwarenladen. Die Schüler haben gearbeitet, sie waren Sonnabend früh da, ohne dass sie gezwungen wurden. Mit dem Reisebüro haben sie sich ihre Kursfahrt verdient.

 

Geschichte in Geschichten (Teil 5) – Schüler fragen Zeitzeugen: Ludmila Adelheid Scholz

von Frederik van Suntum, Mathilda Uhlmann, Juliana Henke (Bearbeitet und gekürzt durch Ursula Hein und Wolfgang Leyn)

Im Heft 5 des letzten Jahres und auf unserer Homepage wurde das Projekt „Schüler fragen Zeitzeugen“ der AG Stadtteilgeschichte ausführlich vorgestellt. In Zusammenarbeit mit dem Friedrich-Schiller-Gymnasium entstanden im Rahmen des Geschichtsunterrichtes der 10. Klassen spannende Gespräche mit verschiedenen Zeit-zeug*innen der Friedlichen Revolution in Leipzig. Lesen Sie nun auf den folgenden Seiten zwei weitere der insgesamt neun Interviews. Hier im Text redaktionell betreut und gekürzt, wird das gesamte Interview dann auf unserer Homepage zu lesen sein.

Vielleicht haben Sie uns auch – aus Ihrer Erinnerung – noch etwas zu erzählen über die aufregenden Zeiten 1989/90. Wir freuen uns auf Ihre Leserbriefe.

Adelheid Scholz wurde 1944 in Tetschen (heute Děčín/Tschechien) geboren. Als 7-Jährige kam sie mit ihrer Familie nach Leipzig. Seit 1970 lebt sie im Stadtteil Gohlis. Nach dem Studium der Theater- und Kulturwissenschaften an der Leipziger Universität begann sie 1967 ihre Tätigkeit als Hörfunkjournalistin beim Sender Leipzig in der Springerstraße. Ihre fachlichen Schwerpunkte waren Bauen und Umwelt, seit 1984 moderierte sie dazu auch Live-Sendungen. Ab Dezember 1989 berichtete vom Runden Tisch in Leipzig. Seit Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks 1992 arbeitete sie als Redakteurin bei MDR Kultur.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie Journalistin im Hörfunk wurden?

Ich habe an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Kultur- und Theaterwissenschaften studiert. Journalistik wäre mir nie in den Sinn gekommen. Aber dann kam eines Tages eine Kommission an die Uni, die suchte Nachwuchs für den DDR-Rundfunk und fragte unseren Institutsdirektor: „Haben Sie nicht jemanden mit guter Sprache, guter Stimme und nicht gerade auf den Kopf gefallen?“. Und er hat mich vorgeschlagen. Auf diese Weise bin ich zu diesem Beruf gekommen. Während der letzten zwei Jahre des Studiums machte ich Praktika beim Sender Weimar und bekam dort einen Vorvertrag als Kulturjournalistin. Aber meine Liebe lebte in Leipzig, deswegen wollte ich nicht nach Weimar. Der Kompromiss war dann eine Stelle in der Nachrichtenredaktion am Sender Leipzig. Das Nachrichtenschreiben war eine gute Schule, weil man lernte, einen Gegenstand kurz und knapp zu schildern. Am Sender habe ich mich sehr wohlgefühlt. Wir waren dort eine relativ kleine Gruppe von Journalisten. Dadurch, dass wir sehr viele Themen zu bearbeiten hatten, war die Tätigkeit sehr abwechslungsreich.

Haben Sie sich Umwelt und Bauen als fachliche Schwerpunkte selber gesucht? Oder waren die einfach noch frei?

Am Sender gab es damals schon fünf Kulturredakteure, eine Journalistin in der Abteilung Musik, und vier beim Wort. Da hab ich mir dann gesagt „Du machst das, wozu keiner Lust hat, was aber die Leute interessiert.“ Das waren Bauen und Umwelt. Umwelt war zu DDR-Zeiten ein sehr heißes Eisen. Das hätte sich sonst niemand getraut, muss ich ehrlich sagen. Ich war im letzten Studienjahr Kandidatin der SED geworden. Da hatte man mich immer wieder liebevoll agitiert. Ich fand es auch gar nicht schlecht, weil wir einen Parteisekretär hatten, der einen sehr begeistern konnte. Dann im Sender Leipzig wurde mir klar: Von einem Mann kann ich mich scheiden lassen, von der Partei nicht. Also sagte ich: „Nein, ich stelle keinen Aufnahmeantrag. Mein Freund will das nicht“, was damals auch stimmte. Daraufhin wurde ich ein ganzes Jahr lang jeden Monat vom Parteisekretär des Senders zu einem einstündigen Gespräch geladen, was meinerseits fast immer mit Tränen endete, doch ich habe mir gesagt „Du hältst durch“. Die hatten sich eingebildet, wegen meiner Kontakte in die Tschechoslowakei, ich konnte ja auch tschechisch, hätten mich die Ideen des Prager Frühlings angesteckt. Der hat mich natürlich interessiert, das musste ich denen aber nicht sagen. Schließlich hat mich die Direktorin, die ich sehr schätze, zu einem langen Gespräch eingeladen. Dabei sagte sie mir, sie habe von der Partei-Kontrollkommission im Bezirk den Auftrag, mir fristlos kündigen. Doch sie wolle für mich bürgen. Also wurde mir nicht gekündigt.

Konnten Sie durch Ihre Arbeit beim Thema Umweltverschmutzung Dinge aufdecken?

Ab 1984 ja. Damals lernte ich eine Stadtverordnete kennen, Frau Doktor Kasek. Sie hatte die erste Umweltgruppe in Leipzig gegründet. Meine Chefin hatte mich zu ihr aufgrund einer kleinen Zeitungsnotiz geschickt. Sie konnte gut argumentieren und hatte Zugang zu Daten – sie war Pharmazeutin – also zum Beispiel, wie viel Schwefel regnet auf Leipzig runter? Wie viel Staub? Das stand ja nirgends. Darüber wurde offiziell nicht berichtet. Oder die Verschmutzung der Flüsse. Und wir haben dazu regelmäßig Live-Sendungen gemacht. Die hießen zuerst „Ratgeber Umwelt“. Weil es aber beim Norddeutschen Rundfunk, also im Westen, Ratgeber-Sendungen gab, durfte sie nicht so heißen und wurde dann umbenannt in „Umwelt-Sprechstunde“. Meiner Direktorin musste ich vor der Sendung nur die Schwerpunktthemen und die grobe Fragerichtung vorlegen. Um mich gegen mögliche Angriffe verteidigen zu können, habe ich die Sendung mitschneiden lassen. Es gab zweimal Anrufe von der SED-Stadtleitung.

Man bekommt den Eindruck, dass Sie in ihrer Arbeit als Journalistin ziemlich eingeschränkt wurden.

Gemessen an heutigen Verhältnissen ja. Gemessen an den damaligen Verhältnissen hatte ich viel Freiraum. Und ich glaube, dass ich die Grenzen soweit ausgereizt habe, wie es ging. Wir waren ein UKW-Sender, der nur 100 Kilometer im Umkreis zu hören war, in der Hauptstadt Berlin schon nicht mehr. Und man konnte unser Wort – im Radio ist das ja ein flüchtiges Wort – nicht schwarz auf weiß nach Hause tragen. Also: Wir hatten einen gewissen Freiraum. Und unsere Direktorin hat mit uns sehr offen diskutiert. Das war anders als in den anderen Sendern von Radio DDR. Das Klima sehr liberal. Wir hatten mehr Freiräume zum Beispiel als die Leipziger Volkszeitung, die ja von der SED herausgegeben wurde, oder als Radio DDR I in Berlin. Aber natürlich ist es überhaupt nicht vergleichbar mit einer freien Presse.

Haben Sie an den Montagsdemonstrationen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 teilgenommen?

Ja, das begann ja zur Herbstmesse Anfang September. Ich war im Pressezentrum der Messe und habe unterwegs vor allem junge Menschen gesehen, die vor den Kameras des Westfernsehens riefen „Wir wollen raus“. Das wollte ich nicht. Eine Woche später war dann Internationales Bachfest, dessen Pressebüro ich leitete. Am 18. September war ein Empfang im Neuen Rathaus. Ich ging fröhlich beschwingt mit meinem Reportergerät die Treppe hoch. Neben mir ein Mann, weißhaarig, mit Latzhose. Das war Pfarrer Führer, mit dem habe ich mich dann noch vor der Nikolaikirche lange unterhalten. Und von da an bin ich zu jeder Demonstration gegangen. Am Anfang erst einmal beobachtend, am 2. Oktober dann schon mitlaufend. Am 2. Oktober sagte unsere Chefin: „Ihr müsst da hingehen, wir können zwar keinen O-Ton von der Demo senden, aber eine Nachricht müssen wir machen. Die Leute reden von nichts anderem, und im Sender Leipzig hören sie nichts darüber. Das geht nicht.“

Von der Demo am 2. Oktober wusste ich, dass in allen Kirchen aufgerufen wurde: Jeder, der am 9. Oktober kommt, bringt noch einen mit. Da habe ich mir gesagt: Jetzt kommen die Kinder mit. Wir sind getrennt gegangen, die Töchter und ich. Die eine war 16, die andere wurde 18. Ich habe sie bloß gebeten: „Geht bitte nicht in der ersten Reihe. Und geht nicht am Rand“. Wir ahnten, was passieren könnte. Es gab ja in der Stadt das Gerücht, in den Krankenhäusern wären zusätzliche Blutkonserven bereitgestellt worden. In unserer Redaktion wurde ein Feldbett aufgestellt. Ich bin am 9. Oktober mit zitternden Knien zur Demo gegangen. Aber ich bin gegangen. Wir haben uns dann als Familie an der Thomaskirche wiedergefunden. Das hatten wir so verabredet.

Haben Sie geglaubt oder gehofft, dass diese Demonstrationen wirklich was ändern?

Ja! Davon war ich überzeugt. Eigentlich schon am 2. Oktober. Da waren die Studenten da und die haben die „Internationale“ gesungen. „Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“ Das passte genau. Und man konnte das ganz laut singen. Jeder verstand, wie es gemeint war. Das war wirklich toll. Und von da an war ich fest überzeugt, dass das nicht nachlässt. Und am 9. Oktober – ja, völlig klar.

Nachdem am 9. Oktober nicht geschossen wurde und zum ersten Mal der Ring voll war mit Demonstranten, was hatten Sie damals für Vorstellungen, wie es weitergehen könnte?

Eigentlich war unser Ziel eine deutlich reformierte DDR. Wir haben nicht nach westdeutschem Muster gedacht. Wir, das waren drei, vier, fünf Kollegen im Sender, mit denen wir uns über Perspektiven unterhalten haben. Die wichtigsten Anliegen der Demonstranten waren Reisefreiheit und Meinungsfreiheit.

Sie haben später vom Runden Tisch berichtet. Was war das für ein Gefühl?

Das waren Tage der wunderbaren Anarchie. Auf fast allen staatlichen Ebenen bis hin zur Regierung bildeten sich Anfang Dezember Runde Tische. Die alte Macht hatte ihre Legitimation verloren, eine neue war noch nicht da, aber Entscheidungen mussten ja getroffen werden. Am Tage wurde gearbeitet, und einmal wöchentlich ab 17.00 Uhr regiert. Das ging oft bis 24 Uhr. Dann ins Funkhaus, Sendung produzieren. Und danach ins Bett. Ich war die Einzige unter den Leipziger Journalisten, die bis Anfang Juni 1990 regelmäßig davon im Sender Leipzig berichtete, zwei Minuten, zweieinhalb, das ging so. Ich habe zu dieser Zeit versucht, ganz intensiv mitzuteilen, was ich sah und hörte. Ich erinnere mich, dass ich an einem Tag 36 Stunden hintereinander gearbeitet habe, früh angefangen und erst am nächsten Mittag aufgehört. Ich habe damals von einem Tag zum anderen gelebt, im Taumel des Glücksgefühls, alles sagen zu dürfen. Es war so wie ein Rausch. Nie vorher wurden in der DDR so viele Fernsehsendungen geschaut, nie so viele Zeitungen gekauft, nie so viel Radio gehört, wie in dieser Zeit.

 

Geschichte in Geschichten (Teil 3) – Schüler fragen Zeitzeugen: Ute Ziegenhorn

Von Judith Lucas, Laura Kronschwitz und Luise Petereit

Ute Ziegenhorn: Jahrgang 1940, aufgewachsen in Jena, besuchte sie von 1946-52 eine Schule in Leningrad, wohin ihr Vater als Zeiss-Spezialist dienstverpflichtet war, danach ging ihre Familie wieder nach Jena. Dort studierte sie von 1959-65 an der Friedrich-Schiller-Universität Medizin und machte eine Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Seit 1974 arbeitete sie in Leipzig u.a. in der Poliklinik Nord in Gohlis, in der Menckestraße 17, wo sie bis 1992 praktizierte. Nach deren Auflösung war sie bis 2009 selbständige Kinderärztin in Gohlis.

Laura: Unser Thema ist die Friedliche Revolution in Leipzig und die Wende und ich woll-te wissen, wie allgemein Ihre Einstellung zur Revolution war, wollten Sie die Wiedervereinigung?
Wiedervereinigung hin Wiedervereinigung her. Es war eigentlich der Druck in der Arbeitswelt, Vorstellungen vom beruflichen Dasein und vom Werdegang. Da denke ich, da ist die Wiedervereinigung schon ein Schritt gewesen, der einfach notwendig war, vieles war eben doch so, dass man keine freie Entscheidung treffen konnte, in der Berufswahl ging es ja schon los.
[…]

Laura: Haben Sie auch an den Demos teilgenommen?
[…] Bei den sozialistischen Veranstaltungen musstest du erscheinen und da habe ich mich registrieren lassen und habe mich dann abgeseilt. Wenn du da nicht erschienen bist, dann konnten sie dich von der Uni schmeißen. […]

Laura: Ach so, okay und an denen zur Revolution?
Ja, jeden Montag. Wir haben damals auch immer Spätdienst in der Markgrafenstraße gemacht da war es auch immer schwierig durch die Innenstadt zu kommen und jaja das gehörte dazu. […]

Laura: Gerade am 09. Oktober hatten Sie da Angst, dass das irgendwie eskaliert?
Ja, es war sehr angespannt und die haben ja alle möglichen Lastwagen und Überfallkommandos, was das alles war von der NVA und Bereitschaftspolizei, das hatten sie ja alles aufgefahren. Das war ja überall rund rum um den Ring und wusste ja keiner, was passiert. Alle hatten Angst, dass sie schießen, obwohl die von der Bereitschaftspolizei auch alle Schiss hatten. […] Ich habe ja als Kind schon erlebt, den Juni 1953. Das war ja auch schon so eine kritische Zeit, da war ich gerade 13, das war ja auch nicht ohne.

Laura: Und was genau hat Sie dazu bewegt, obwohl Sie so viel Angst hatten?
Weil wir was verändern wollten, einfach das. Nicht die sog. Freiheit, was ist denn Freiheit, aber einfach um diesen ewigen gesellschaftlichen Druck loszuwerden.

Laura: Haben sich Ihre Hoffnungen jetzt damit erfüllt wie es jetzt abgelaufen ist?
Nein, weil vieles war ja mehr oder weniger dann ein Politikum. Da sind die ganzen Polikliniken zerstört wurden, jetzt erfinden sie die Ärztehäuser wieder. […] Da war vieles in Ordnung und wie gesagt auch die Mütterberatung und die Betreuung der Kindereinrichtungen. Da sind wir ja immer einmal die Woche hingegangen und haben uns die Sorgenkinder angeguckt. […]

Laura: Welche Veränderungen mit der Wiedervereinigung waren für Sie am größten und am bedeutendsten?
Naja, für uns war es beruflich ja total anders. […] nach der Wende hat die Stadt uns ja alle entlassen, da mussten wir uns ja alle erstmal kümmern, um Praxisräume, um die Einrichtung. Ich war da Ende 40, das ist ja nicht so einfach, Schulden aufzunehmen, das kannten wir ja alles nicht Kredite in dieser Form […] Dann war das ja ein total anderes Abrechnungssystem, das haben wir ja alles in der vollen Sprechstunde nebenbei uns aneignen müssen, das war schon nicht so einfach.

Laura: Gab es auch Veränderungen vor allem in Ihrer Branche, die Sie so richtig gut fanden? Neue Methoden oder so, die eingeführt wurden?
Na klar. Wir haben ja nicht mehr so viel schreiben müssen dank Computer, Das war schon ein Schritt, ansonsten Sonographiegeräte und sowas, das hatten wir ja alles nicht.

Laura: Was haben Sie sich damals noch, Sie haben ja schon gesagt, Sie haben sich vor allem diese Freiheit erhofft, was noch?
Ja, die sog. Freiheit, da geht es ja auch um die Reisefreiheit, dass man eben mal in der Welt reisen kann. Das durften wir ja alle nicht und naja, dass du eben nicht diesen ständigen gesellschaftlichen Druck hattest […] Mein Vater und meine Schwester, die waren auf Reisekader, obwohl sie nicht in der Partei waren, ins westliche Ausland und, wenn ich nun hier mal einen Messegast hatte, das wurde ja alles weiter gemeldet das haben die ja alles gewusst, die Stasi. […]

Laura: Empfinden Sie das Gesundheitssystem, wie es jetzt organisiert ist, als besser, oder…? Was finden Sie besser oder schlechter?
Ich finde das… also naja, du hast halt heute ganz andere Möglichkeiten der Untersuchung von MRT angefangen. Das hatten wir ja alles nicht, selbst Universitäten hatten das nicht und die Ultraschall Geräte. […] aber ich sag mir eben immer: der Normalsterbliche, wenn der zum Doktor will, der will ordentlich angehört werden, der will nicht, dass der nur in den Computer guckt und sich auch mal mit dem Menschen unterhält und ein bisschen Zuwendung und das gehört eben auch mit dazu und das ist nicht in Ordnung wie es heute zum Teil läuft […]

Laura: Wenn Sie in der Schule Ihre Meinung gesagt haben, über den Staat und so, es gab ja auch das Fach Staatsbürgerkunde, haben Sie da irgendwie bemerkt, dass Sie da schlechtere Noten bekommen haben?
Ja, auch schlechte Beurteilung habe ich von meinem Klassenlehrer bekommen. Der ist mir dann, nachdem ich das Abitur dann hatte, da hat er so quasi sich entschuldigt… Das kannst du zwar nicht beweisen, aber das war so. […]

Laura: Ja, was weiß ich ja nicht, wie schnell das nach der Wende dann auch alles geändert wurde oder…
Ja, das ging ruckzuck. Die haben da auch keine Rücksicht auf uns genommen. Das hätten die mit keinem Wessi gemacht, was die mit uns gemacht haben. Die haben uns ja sofort das neue System aufgedrückt bei der vollen Arbeit. Da hat doch keiner gefragt, wie wir das bewältigen, das Programm. Es hatte keiner bei uns einen Computer, geschweige denn, das andere Abrechnungssystem, das war alles so nebenbei. […]

Laura: Also hätten Sie sich eher gewünscht, dass nicht einfach die DDR komplett an den Westen angepasst wird, sondern das, was es in der DDR gab…
Ja schon anpassen, aber sinnvoll überlegen, was ist hier erhaltenswert und was nicht, das hat man ja nicht gemacht. Man hat rigoros alles erstmal abgesenst. Das hat man doch gar nicht gemacht, Gedanken sich gemacht. Können wir uns das übernehmen oder nicht, das war ja alles schlecht. Und so war es ja nicht. Das ist ja Fakt. […]

Der Text wurde bearbeitet und gekürzt, Ursula Hein

Geschichte in Geschichten (Teil 4) – Schüler fragen Zeitzeugen: Meigl Hoffmann

Von Lina Keilhaue, Lucia Malinowski und Levin Imieske

Meigl Hoffmann wurde 1968 in Leipzig geboren. Nach dem Abschluss der 10. Klasse an der Leibnizschule gründete er als Lehrling sein erstes Kabarett. Opposition wurde ihm, wie er sagt, schon „in die Wiege gelegt“. 1987 stellte er einen Ausreiseantrag. Dieser wurde Anfang Oktober 1989 genehmigt und er musste die DDR verlassen. Anfang 1990 kehrte er aus Frankfurt/Main nach Leipzig zurück und gründete hier 1992 das Kabarett „Gohgelmohsch“.

Während der Wende, bei den großen Massendemonstrationen waren Sie nicht in Leipzig, sondern in Frankfurt/Main. Wie kam es dazu?
Mein Problem in der DDR bestand darin, dass meine Mutter, Leistungssportlerin, 1960 Teilnehmerin an den Olympischen Spielen in Rom, mehrfache DDR-Meisterin und so weiter, 1974 illegal in den Westen ging. Das hieß damals „Republikflucht“. Eigentlich wollte mein Vater mit meinem großen Bruder und mir hinterher, hat dann aber doch gekniffen und ist hier geblieben. Es hätte passieren können, dass er in den Knast kommt und wir dann ins Kinderheim. Meine Mutter versuchte, in die DDR zurückzukehren. Das haben die Behörden aber nicht zugelassen. Nun saß sie getrennt von den Kindern todunglücklich in Frankfurt. Es war sehr schwierig auszureisen, auch wenn du endgültig gehen wolltest. Das hat alles ewig lange gedauert. Die Behörden wollten nicht, dass die Leute massenweise die DDR verlassen. Deswegen haben sie ja 1961 die Mauer gebaut. Als Sohn einer Republikflüchtigen galtest du sofort als Staatsfeind. Noch dazu mit einem Vater, der am Volksaufstand vom 17. Juni 1953 teilgenommen hatte und danach ein halbes Jahr im Knast saß. Da war dir die Opposition schon in die Wiege gelegt. Im Prinzip konnte ich in der DDR gar nichts werden. Wer studieren wollte, musste sich länger für die Armee verpflichten. Der normale Grundwehrdienst dauerte anderthalb Jahre, und wenn du stattdessen nicht drei Jahre gegangen bist, dann haben die gesagt: Studienplatz bekommen Sie keinen und Abitur natürlich auch nicht. So bin ich ein bisschen als Wanderer zwischen den Welten aufgewachsen. Hätte ich meiner Mutter in den Westen folgen sollen? Das hätte gedauert. Und ich hing auch an Leipzig. So habe ich mich dann illegal in Prag mit der Mutter getroffen, in die DDR durfte sie ja nicht wieder rein.

Wie haben Sie sich damals Ihre berufliche Zukunft vorgestellt?
Mir wurde in der 9. Klasse klar, dass ich kein Abitur kriege. Mein Plan, Sportjournalist zu werden, was damit passé. Ich hatte aber keinen Plan B. Kumpels fragten, was ich denn werden wolle. „Ich werde Rockstar, Schauspieler oder Asozialer“, sagte ich. Hab mich dann erst mal für Punk entschieden. Dann sollten wir uns um eine Lehrstelle bewerben. In der DDR gab‘s ja offiziell keine Arbeitslosen und jeder bekam eine Lehrstelle. Nicht die, die er haben wollte, aber du kriegtest auf jeden Fall eine. Ich hatte keine Idee, was ich denn nun werden sollte. Da gab es so blaue Heftchen, da standen diese ganzen Berufe drin, also zum Beispiel Facharbeiter für Betonbau oder Zerspanungstechniker. Alles hat nur nach Arbeit und Schmutz gerochen, wenn du das gelesen hast. Wegen totaler Ratlosigkeit habe ich mich einfach gar nicht beworben. Daraufhin hat die Schuldirektorin meinen Vater hinbestellt. Der hat dann zu mir gesagt: „Hör zu, ich besorg dir eine Lehre. Die machst du ohne Fehlzeiten, die Sache wird dir zwar nicht gefallen, aber du machst sie so gut, wie du kannst. Musst ja später dann nicht in dem Beruf arbeiten. Dafür unterstütze ich alles, was du danach machst.“ Sag ich: „Okay, das ist ein Deal.“ Und dann hat er mir eine Lehrstelle als Maschinen- und Anlagenmonteur besorgt.

Wie kam es dann aber zum Kabarett?
Ich saß mit meinen Kumpels im Café, wir haben uns damals ja als Bohème, als Halbintellektuelle, betrachtet. Und da hatte irgendeiner ein Kabarettbuch einstecken, von der „Herkuleskeule“ in Dresden. Da hab ich reingeguckt, und da war ein Gedicht drin ‚Langsam im Denken‘. Das fand ich cool. Da hab ich gesagt: Ich schreibe keine Gedichte, ich singe keine kommunistischen Volkslieder. Wir machen Kabarett. Zusammen mit ein paar verrückten Kumpels aus der Berufsschule haben wir dann damit angefangen. Und das war so gut, also so jung, so gegen den Strich irgendwie, dass die in der Berufsschule gesagt haben, wir sollten gleich ein richtiges Kabarett gründen. Damals gab es eine Punkband, die hieß ‚Wutanfall‘, von der war ich großer Fan. Deswegen hab ich mein Kabarett ‚Mutanfall‘ genannt.

1987 stellten Sie einen Ausreiseantrag. Was hatte Sie dazu bewogen?
Vom September 1985 bis Mai 1987 habe ich meine Ausbildung gemacht und mit den Kumpels Kabarett gespielt. Dann wurde mir klar, dass das mit einer Theater- oder Kabarettkarriere unter dem Radar der staatlichen Organe nicht mehr lange weitergeht. Kabarett geht ab einer gewissen Öffentlichkeitswirkung nicht ohne Deal mit den Behörden. Und mit Mutter im Westen ist es sehr fraglich, ob sie dich überhaupt vor einem größeren Publikum auftreten lassen. Und da wusste ich, jetzt musst du gehen. Ich wollte eigentlich nicht weg, aber ich dachte mir: Hier kann ich nicht länger Kabarettist sein. Also habe ich einen Ausreiseantrag in den Westen gestellt, zur Pflege der Mutter. Die hatte schweres Rheuma.

Wie sind Sie mit der oppositionellen Szene in Leipzig in Berührung gekommen?
Ich kannte eine Menge Leute, die im Kirchenkeller der Michaeliskirche verkehrten, und kam auch viel in Kneipen und Klubs rum, so habe ich oppositionelle Leute kennengelernt. Das war mal so ein Umwelt-Typ oder einer, der fragte: „Rosa Luxemburg, kennst du die?“ Und dann war ich ja mit dem Kabarett sowieso kritisch unterwegs. Wir haben uns als Linke verstanden. Also den Staat selber nicht. Wir waren der Meinung: Das sind keine Kommunisten, das sind Arbeiterverräter. Wir dagegen fühlten uns als bolschewistische Avantgarde, als Trotzkisten, als Revolutionäre im Geiste von Bucharin und so. Das war uns schon irgendwie wichtig. Einer meiner Freunde und Mitbegründer des Kabaretts hat damals gesagt: „Ich bin zwar Genosse, aber ich trage das Parteiabzeichen nicht am Revers, sondern im Herzen.“ Also der war wirklich Kommunist, ein guter.

Mitte/Ende 1988 begannen dann in Leipzig die ersten oppositionellen Aktionen. Zur Dokfilmwoche haben wir das erste Ding gemacht. In der DDR war gerade die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ verboten worden, wegen eines Artikels über den Hitler-Stalin-Pakt. Vorm Kino „Capitol“ ließ eine kirchliche Gruppe Luftballons fliegen, wo ‚Sputnik‘ draufstand. Die Stasi hinterher, mit dem Regenschirm haben sie versucht, die Luftballons zu zerstechen… Die haben auch mal einem von uns aufs Maul gehauen. Also, das war schon nicht ohne. Und dann gab‘s am 15. Januar den Liebknecht-Luxemburg-Marsch, da war ich dann auch dabei. Das war die größte Demonstration seit dem 17. Juni 1953. Beim Pleiße-Gedenkmarsch, da ging‘s um die Umwelt, aber auch um Meinungsfreiheit. Dann häuften sich langsam Aktionen wie das Straßenmusikfestival am Thomaskirchhof im Juni 1989. Da war ich auch dabei, einen Steinwurf entfernt vom Geschehen stand ich hinter den Fotografen. Ich wusste ja nicht, sind die von uns oder von der Stasi.

Wie würden Sie Ihre Rolle während der Proteste beschreiben?
Ich selber war dabei wie ein Zeitzeugen-Journalist, der keinen Fotoapparat mithat, aber die Bilder im Kopf speichert. Zum Beispiel von der Einkesselung der Teilnehmer des Straßenmusikfestivals durch die Polizei. Danach wusste ich: Die werden den Staat verteidigen, wenn’s sein muss, auch gegen das eigene Volk. Nach dem Straßenmusikfestival habe ich meinen Ausreiseantrag dann auch gedanklich gestellt. Bis dahin war ich ein DDR-Bürger, der eigentlich lieber bleiben will, doch nun betrachtete ich mich als im Exil lebend hier in Leipzig. Ja, und dann wurde das im Sommer 1989 auf dem Nikolaikirchhof immer größer und immer interessanter. Neben dem „Wir wollen raus!“ gab’s auf einmal auch den Spruch „Wir bleiben hier!“. Da war ich live dabei, als der erfunden wurde. Nachdem die „Tagesschau“ darüber berichtete, kamen am nächsten Montag noch viel mehr Leute. Teilweise standen sie hinter der Absperrung, teilweise auf dem Nikolaikirchhof, immer mit Polizeiketten dazwischen. Am 2. Oktober haben die dann so ‘ne Kette aufgemacht, als der Druck von außen zu stark wurde. Was passierte? Die Zuschauer solidarisierten sich mit uns, und wie von Geisterhand zog ein Demonstrationszug los über den Augustusplatz, damals Karl-Marx-Platz. Ich stand da auf der Treppe vor der Oper und konnte es nicht fassen: Der Platz schwarz vor Menschen. Und alle waren sich einig: „Das kriegen die nie wieder in den Griff!“

Vier Tage vor der entscheidenden Demo am 9. Oktober wurde Ihr Ausreiseantrag genehmigt …
Ja, am 5. Oktober war es soweit. Ich hab noch zu meinen Kabarett-Leuten gesagt: „Ich würde ja gerne bleiben. Ich hätte auch in Mecklenburg einen Unterschlupf. Aber ich glaube, dass die am 9. Oktober schießen werden.“ Denn wenn die zulassen, dass der Demonstrationszug einmal um den Ring läuft, dann ist die Demonstrationsfreiheit da. Damit ist die Meinungsfreiheit gegeben, dann kommt als nächstes die Pressefreiheit. Danach die Forderung nach Reisefreiheit. Und bei der Reisefreiheit ist die Existenz des Staates DDR infrage gestellt.

Im Westen haben Sie sich entschieden, nach Leipzig zurückzukehren…
13 Tage nach meiner Ausbürgerung ist Honecker zurückgetreten. Da dachte ich, das kann doch nicht wahr sein: Die ganze Zeit halte ich durch. Und jetzt, wo das Arschloch zurücktritt, darf ich nicht mehr rein in die DDR! Die spinnen doch wohl. Wir durften dann endlich am Heiligabend visafrei wieder rein. Bis März 1990 bin ich noch gependelt, mal vier Tage Frankfurt, dann wieder drei Tage Leipzig. Und dann hab ich gesagt: Ich komme zurück. Denn hier sind die Freiräume. Im Westen ist alles schon fertig und verteilt, aber im Osten hast du noch die anarchische Möglichkeit, was zu machen als freier Künstler. Und genauso ist es gekommen.

Der Text wurde bearbeitet und gekürzt von Wolfgang Leyn.

Geschichte in Geschichten (Teil 2) – Schüler fragen Zeitzeugen: Gerd Klenk

Wie im vorigen Gohlis Forum angekündigt, können Sie hier unser erstes Zeitzeugeninterview lesen, aus Platzgründen redaktionell gekürzt. Das gesamte Interview finden Sie später auf unserer Homepage. Alle neun Interviews wurden im Sommer 2020 von Schülern der Schillerschule im Rahmen eines Gemeinschafts-Projekts mit dem Bürgerverein Gohlis geführt. Wie haben Friedliche Revolution und deutsche Einheit das Leben der Zeitzeugen verändert? Wofür haben sie sich engagiert? Was wurde erreicht, was nicht?

Von Maximilian Mehlhorn, Martin Opitz und Jamal Ziegler

Geboren 1949, studierte Gerd Klenk nach Schule, Berufsausbildung und Abitur an der Volkshochschule an der TH Leipzig, arbeitete ab 1986 im volkseigenen Betrieb „Forschung und Rationalisierung“ im Süßwarenkombinat und engagierte sich in der kirchlichen Umwelt- und Friedensarbeit. 1989 wurde er Vertreter des Friedenskreises Gohlis im „Synodalausschuss für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Kirchenbezirk Leipzig-Ost“. Nach Konkurs des Betriebes nach der Währungsunion 1991 wurde er Projektleiter in Beschäftigungsgesellschaften und später Migrations- und Schuldnerberater beim Caritas-Verband. 1992 gründete er mit anderen Gohliser*innen den Bürgerverein Gohlis; von 1998 bis 2014 war er dessen Vorstandsvorsitzender.

Herr Klenk, wie haben Sie die Friedliche Revolution miterlebt?
Ich habe sie aktiv miterlebt als Mitglied des Friedenskreises Gohlis, der am 9. Oktober 1989 das Friedensgebet in der Nikolaikirche gestaltete mit dem geänderten Thema „Volkes Stimme wollen wir sein“. Geändert deshalb, weil wir in der Zeitung als Konterrevolutionäre bezeichnet wurden. Wir forderten deshalb den Dialog mit allen Schichten der Gesellschaft. Die Situation war sehr brenzlig, wir hatten alle Angst, konnten aber nicht mehr zurück. Frau und Kinder blieben zu Hause. Man befürchtete – das war ja vorher angekündigt – der Polizei-Einsatz wird blutig. Viele Genossen waren in der Nikolaikirche, die noch nie in der Kirche waren und viel ängstlicher waren, als wir, logischerweise. Die kannten das ja nicht. (…) Der Pfarrer der Markusgemeinde und Initiator der Friedensgebete, dessen Aufruf „Keine Gewalt“ von allen Basis- und Friedensgruppen immer weitergetragen wurde, lieferte einen wichtigen Beitrag, um eine Eskalation zu verhindern. Im Synodalausschuss für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung waren auch Vertreter von Basisgruppen, die nichts mit Kirche am Hut hatten. (…) Das war immer schwierig mit denen, da sie eigentlich nur ihren politischen Protest zum Ausdruck bringen wollten. Diese Gruppen bestanden meist aus Ausreisewilligen. (…)

Wie standen Sie den damaligen Ereignissen gegenüber?
Ja, das war ‘ne ziemlich dramatische Zeit, und man hatte dabei natürlich Ängste, aber auch Hoffnungen. Nach dem 9. Oktober wurden alle Basisgruppen- und Friedensgruppenvertreter eingeladen ins Rathaus. Und da merkten wir, dass man versuchen wollte, uns zu überreden, dass wir Einfluss nehmen, dass der Dialog nicht durch Demos auf der Straße geführt wird, sondern geordnet eben in Häusern. Man dachte, man könnte es noch ändern, indem man den Kopf der Führung wechselte, durch Egon Krenz. Aber das war dann alles zu spät. Und was ich bedauere, ist: die meisten Leute hatten dann nur noch die D-Mark im Kopf. „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“. Das war eigentlich nicht unser Ansinnen. Die Friedensbewegung wollte etwas Neues, eine Gesellschaft, die nicht so stark auf Konsum orientiert ist. Und wenn eine Vereinigung kommt, dann wollten wir uns da auch mit einbringen können, damit es etwas Gesamtdeutsches wird. Das ist es ja dann leider nicht geworden.

Was haben Sie sich für den neuen Abschnitt nach der Wiedervereinigung erhofft?
Ich hatte mir zumindest erhofft, dass die ostdeutsche Seite sich auch ein Stück mit einbringen könnte, dass der Wiedervereinigungsprozess nicht so verläuft, wie er dann verlaufen ist, also in einer Vereinnahmung, sondern zum Beispiel, dass man eine neue Verfassung vorschlägt; es gab ja nur das Grundgesetz. (…)
Wir wollten mehr. Und ich kenne auch viele in den alten Bundesländern, die wie wir gehofft hatten, dass diese Wiedervereinigung auch für sie eine Veränderung bringt, dass da was Neues entsteht, etwas Gemeinsames. (…)

Hätten Sie damals gedacht, dass es auch heute, 30 Jahre später, noch solche Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland geben wird?
Ich hätte nicht gedacht, dass es noch solche gewaltigen Unterschiede geben würde. Ich hätte mir eher gewünscht, dass wir – wie bei Fridays for Future – uns in eine positive Richtung engagieren, um die Gesellschaft zu verändern bei Themen wie Militarisierung und Umweltschutz und genauso Kapital und Konsum. Die ganze Gesellschaft ist ja sehr stark konsumorientiert. Aber Konsum ist ja nicht das Wichtigste. (…)

Was hätten Sie, wenn Sie damals Mitglied in der Regierung gewesen wären, anders gemacht?
In der Demokratie geht es ja immer darum, Mehrheiten zu bilden, das ist ja das Schwierige, und das war ja damals auch so, wenn ich keine Mehrheit habe, dann kann ich natürlich auch bestimmte Dinge nicht durchsetzen, wie im sozialen Bereich und beim Umweltschutz, obwohl das für die nächste Generation ein ganz wichtiges Thema ist. (…)

Was hätten Sie gern aus der DDR mit in die neue Zeit mitgenommen?
Löhne und Renten waren niedrig, aber auch die Mieten. (…) Gut war, dass in der DDR fast jeder einen Kindergartenplatz gekriegt hat. Außerdem das einheitliche Bildungssystem, auch wenn es negativ politisch belastet war. Wenn ich zum Beispiel von Leipzig nach Rostock gezogen bin, brauchte mein Kind nicht plötzlich neue Schulbücher, weil der Lehrstoff an der Schule dort anders ist als hier. Und natürlich die Zuschüsse für Grundnahrungsmittel. Eigentlich brauchte niemand Existenzangst zu haben.

Fazit

Das Interview mit Gerd Klenk war sehr interessant und aufschlussreich. Man lernt zwar in der Schule einiges über die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung, aber das alles ist rein objektiv. Die subjektive Meinung einer einzelnen Person, in unserem Falle Gerd Klenk, ist da nochmal was Anderes. Wir haben einige neue Dinge erfahren, die uns teilweise auch sehr überrascht haben. Wir können die Methode des Zeitzeugen-Interviews zum Thema Friedliche Revolution und Wende nur empfehlen, solange es noch möglich ist und Zeitzeugen leben.

(Der Text wurde bearbeitet und gekürzt von Ursula Hein, Wolfgang Leyn und der Redaktion)

 

Geschichte in Geschichten: Schüler fragen Zeitzeugen – im Garten

Von Ursula Hein und Wolfgang Leyn

In der Online-Ausgabe des Gohlis Forums wurde das Zeitzeugen-Projekt der AG Stadtteilgeschichte mit dem Schiller-Gymnasium Ende April ausführlich vorgestellt. Nachzulesen ist der Artikel online im Archiv des Gohlis Forums.

Wende und Einheit haben 1989/90 im Westen Deutschlands wenig, im Osten aber fast alles verändert. Neun Zeitzeugen aus Gohlis – ein Pfarrer, eine Kinderärztin, ein Ingenieur, eine Politikerin, ein Musiker, ein Lehrer, eine Journalistin, ein Kabarettist und eine Sparkassen-Filialleiterin – sprechen darüber mit Schülerinnen und Schülern der Klasse 10/1. So war es mit Herrn Geyer, dem Geschichtslehrer und Klassenleiter vereinbart.

Doch dann schienen durch Corona persönliche Treffen der Schüler-Teams mit den Zeitzeugen auf einmal unmöglich zu werden. Um unser Projekt zu retten, planten wir stattdessen Telefon-Interviews mit Smartphone. Doch dann eröffnete sich glücklicherweise doch noch eine bessere Möglichkeit. Das Budde-Haus öffnete nach mehrmonatiger Schließung wieder seine Pforten.

Dessen schöner Garten bot optimale Bedingungen für die Gespräche von Angesicht zu Angesicht – natürlich mit dem gebotenen Abstand. In einem der beiden Pavillons traf sich dann bis zum 30. Juni jeweils ein Zeitzeuge bzw. eine Zeitzeugin mit je drei Schülerinnen oder Schülern, begleitet von einem der Organisatoren. Ein Treffen, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, fand im Garten eines Privathauses in der Ehrensteinstraße statt.

Bewaffnet mit Smartphones, aber auch mit Stift und Papier, wegen der sommerlichen Temperaturen bei kühlen Getränken, kamen wir zusammen und sprachen anderthalb bis zwei Stunden lang miteinander. Die Schüler waren gut vorbereitet, stellten klug formulierte Fragen und los ging‘s. Man hatte den Eindruck, die Zeitzeugen – Frauen und Männer zwischen Mitte 50 und Anfang 80 – hätten schon lange darauf gewartet, jungen Leuten von ihren Träumen, ihren Erfahrungen und Erlebnissen zu berichten.

Die Gespräche bereicherten zum einen den Unterricht der Klasse 10/1 und brachten den beteiligten Schülern interessante Einblicke (und höchstwahrscheinlich gute Zensuren). Zum anderen können auch Sie, die Leser des Gohlis Forums, davon profitieren. In jedem der nächsten Hefte bringen wir eine neue Folge der spannenden Geschichte in Geschichten.

Zeitzeugen-Projekt in der Schillerschule: 30 Jahre Wende und Einheit – erlebte Geschichte in Gohlis

von Wolfgang Leyn

Wende und Einheit haben 1989/90 im Westen Deutschlands wenig, im Osten aber fast alles verändert. Über ihre Erlebnisse und Erfahrungen sprechen Zeitzeugen aus Leipzig-Gohlis im Frühjahr 2020 mit Schülern einer 10. Klasse des Schiller-Gymnasiums. Welche Hoffnungen von damals sind Wirklichkeit geworden? Welche nicht? Und was waren die Gründe? Was ist gut gelaufen? Was hätte besser laufen können oder müssen? Wenn ja, wie? Vorbereitet wurde das Projekt seit Herbst vorigen Jahres vom Geschichtslehrer und Klassenleiter Burkhardt Geyer gemeinsam mit der AG Stadtteilgeschichte des Bürgervereins Gohlis. Am 4. März haben wir es in der Klasse 10/1 vorgestellt.

Befragung ohne Ansteckungsgefahr
Nach Ausbruch der Corona-Krise haben wir überlegt, ob wir die Gespräche ausfallen lassen oder verschieben müssen. Beides wollten wir nicht und wir müssen auch nicht. Um jegliche Ansteckungsgefahr zu vermeiden, verzichten wir jedoch auf persönliche Begegnungen zwischen Schülern und Zeitzeugen. Stattdessen werden die Gespräche per Smartphone geführt. Je drei Schüler bereiten sich gemeinsam auf die Befragungen vor. Die Zeit des aktuellen Unterrichtsausfalls nutzen sie für thematische Internet-Recherchen über das Leben im verschwundenen Land DDR. Wenn die Umstände es zulassen, könnten die Gespräche im Juni stattfinden. Genutzt werden sie dann sowohl im Geschichtsunterricht als auch für historisch interessierte Leser des „Gohlis Forums“.

Pfarrer, Ingenieur, Politikerin, Journalistin …
Die neun Zeitzeugen aus Gohlis sind Männer und Frauen zwischen Mitte 50 und Anfang 80 mit ganz unterschiedlichen Berufen, Ansichten und Erfahrungen. Am 9. Oktober, als in Leipzig 70.000 Demonstranten um den Ring marschierten, hielt Pfarrer Gotthard Weidel von der Friedenskirchgemeinde die Predigt beim Friedensgebet in der Nikolaikirche. Aktivisten aus der kirchlichen Umwelt- und Friedensarbeit wie Gerd Klenk gehörten 1992 zu den Mitbegründern des Bürgervereins Gohlis. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass das Budde-Haus als soziokulturelles Zentrum für den Stadtteil erhalten werden konnte.
Gisela Kallenbach engagierte sich 1989/90 in der Bürgerrechtsbewegung und setzte sich später in der Stadtverwaltung, im Landtag und im Europaparlament weiter für ihre Ideale ein. Die Radioredakteurin Adelheid Scholz arbeitete im Funkhaus in der Springerstraße, moderierte dort bei Radio DDR Sendungen zu Umweltthemen, baute 1990 Sachsenradio mit auf und gestaltete später Kultursendungen im Mitteldeutschen Rundfunk.

… Kabarettist, Musiker, Kinderärztin, Schuldirektor, Sparkassen-Chefin
Der Kabarettist Meigl Hoffmann ging Anfang Oktober 1989 mit Ausreiseantrag in den Westen, kam nach der Friedlichen Revolution zurück und betrieb 1990/91 ein Kleinkunstlokal in einer Gohliser Kneipe. Gewandhausmusiker Matthias Schreiber zog mit dem Orchester 1981 in den ersten DDR-Konzerthausneubau ein, sah auf Tourneen mehr von der Welt als die meisten DDR-Bürger und nahm im Herbst 1989 an den Montagsdemos teil. Die Kinderärztin Ute Ziegenhorn arbeitete in der Poliklinik Nord in der Menckestraße und erlebte dort nach 1990 die Abwicklung ihrer Arbeitsstelle mit.
Dr. Karl-Heinz Hagen, Geschichtslehrer an der Schillerschule, wurde in der Wendezeit vom Kollegium zum Direktor gewählt. Brigitte Eichelmann war am 1. Juni 1990 in der von ihr geleiteten Sparkassenfiliale in der Gohliser Straße für den reibungslosen Geldumtausch von DDR-Mark in harte DM verantwortlich.

von Ursula Hein

Großes Interesse und ein wenig Bange

Als wir am 4. März bei unserem ersten Treffen mit den Schülern in der Schiller-Schule das Projekt und den Bürgerverein vorstellten, weilte das Corona-Virus noch in weiter Ferne. Der Klassen- und Geschichtslehrer Herr Geyer hatte schon gut vorgearbeitet, zwei Jahresarbeiten zur DDR-Geschichte waren längst in Arbeit, und die Schüler zeigten sich sehr interessiert und stellten eine Menge Fragen. Ein wenig Bange hatten einige schon vor dem Zusammentreffen mit den Zeitzeugen, ob sie dabei alles auch richtig machen würden, denn solch eine Aufgabe hatten sie in ihrer bisherigen Schullaufbahn ja noch nicht zu bewältigen.
Aber diese Bedenken konnte ich doch zerstreuen, anhand meiner Erfahrungen als Geschichtslehrerin an einem Gymnasium in Mannheim mit Zeitzeugen aus der NS-Zeit und der Nachkriegszeit, anhand der Begegnungen mit ehemaligen Zwangsarbeitern und Überlebenden. Herr Leyn und ich freuen uns jedenfalls auf dieses Projekt, auch wenn durch die Corona-Krise einiges schwieriger geworden ist. Im Laufe dieses Jahres werden wir Sie dann im „Gohlis Forum“ über die Ergebnisse der Recherchen informieren.

Stolpersteine – nur für Eingeweihte?

von Ursula Hein

Einmal im Jahr werden in Gohlis wie überall in Deutschland die Stolpersteine geputzt, in die Straße eingelassene bronzene Stolpersteine, die an Menschen erinnern sollen, die vom NS-Regime verfolgt, vertrieben oder getötet wurden. Es gibt viele solcher Stolpersteine in Deutschland, aber es kann nicht aller Verfolgten gedacht werden, dafür sind es zu viele. Leider gibt es Menschen, die sich nicht angesprochen fühlen, wenn sie jeden Tag über den Stein vor ihrer Haustüre laufen. Es interessiert sie nicht, sie ignorieren ihn einfach. Sie fühlen sich vielleicht genervt von der Erinnerung an den „Fliegenschiss der deutschen Geschichte“, wie es ein führender AfD-Politiker zu sagen wagte, auch wenn er es später als „ungeschickte Formulierung“ zu relativieren versuchte.

Was können wir gegen diese Ignoranz und das Nicht-Wissen-Wollen tun? In den letzten Jahren, seitdem ich in Gohlis lebe und im Bürgerverein aktiv bin, haben wir in jedem Jahr rund um „unseren“ Stolperstein mit Flugblättern in den Hausbriefkästen und an Bäumen in der Heinrich-Budde-Straße 50 die Bewohner informiert. Auch im Gohlis Forum weisen wir immer darauf hin, dass wieder der Jahrestag des Erinnerns gekommen sei, und rufen zur Teilnahme auf. Aber fast niemand aus den umgebenden Häusern ließ oder lässt sich sehen.

Im letzten Jahr kam immerhin ein Ehepaar, beide sind Mitglieder des Bürgervereins. Ansonsten war es nur das kleine Häuflein aus Vorstand und Mitgliedern, das sich hier versammelte. Andreas P. putzt trotz Gichtproblemen eifrig den Stein für Werner Schilling, der 1917 in Leipzig geboren wurde und im Juli 1944 erst 27-jährig im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet wurde. Schon vorher hatte jemand ein wenig geputzt und Blumen auf den Stein gelegt.

Wir zündeten dann unsere Kerze an, stellten zwei kleine Erikastöckchen hin und sprachen über das Leben dieses Gohlisers, der sein Leben lassen musste, weil er Hitlers Krieg nicht mitmachen wollte. Die Stöckchen haben wir auf die benachbarte Baumscheibe gepflanzt, hoffentlich können sie dort einwurzeln und bis zum nächsten Jahr überleben, wenn sich dann vielleicht mehr Anwohner als diesmal gemeinsam an den Verfolgten des NS-Regimes erinnern werden.

Stolperstein putzen

Auch in diesem Jahr wird der Bürgerverein den durch uns gestifteten Stolperstein am 08. November putzen. Dieser befindet sich in der Heinrich-Budde-Straße 50 und ist in Gedenken an Werner Schilling verlegt worden. Die Mitglieder des Bürgervereins werden ab 16.30 Uhr vor Ort sein.

Eine kurze Biografie zu Werner Schilling findet sich hier:

Am 19.8.1917 wurde Werner Schilling in Leipzig-Stötteritz geboren. Seine Kindheit verlebte er in Borna bei seinen Großeltern. Bis 1932 besuchte er die 30. Volksschule in Stötteritz.

Am 13.1.1939 fand die Trauung mit seiner Frau Helga Grossmann statt und beide bezogen eine Wohnung in der damaligen Beaumontstr. 50. Vor dem Krieg arbeitete Werner Schilling als Bürobote in einer Bank.

Am 5.1.1940 mußte er in Hitlers Kriegsdienst eintreten. Lange hat er dies nicht mitgemacht, denn am 20.12.1940 ist er das erste Mal wegen Fahnenflucht verurteilt worden. Das Landgericht Breslau verurteilte ihn zu 7 Jahren und 3 Monaten Zuchthaus.

1941 entstand in Fulda das Inf.-Ersatz-Bataillon 500, die so genannte „Bewährungstruppe 500“. Häftlinge aus Wehrmachtsgefängnissen wurden in diesen Truppenverband zusammen gezogen. Der Krieg (ver)brauchte Soldaten. Die Haftzeit wurde während des Einsatzes ausgesetzt, aber man konnte durch „Bewährung im Kampf“ seine Strafe löschen oder mildern.

In solch eine „Bewährungseinheit“ kam Werner Schilling.

Nachdem er auch von da wieder geflohen war, wurde er am 10.2.1943 in Leipzig festgenommen. Von einem Außenkommando der Untersuchungshaftanstalt Leipzig floh er am 22.3.1943 erneut.

Die Gestapo schrieb ihn zur Fahndung aus. Im Kreis Johannisburg / Ostpreußen (heute: Pisz) hat ihn die Gestapo am 18.5.1943 festgenommen. Er kam in das Landgerichtsgefängnis Lyck und wurde am 17.9.1943 vom Gericht OFK 225 Skierniewice in der Nähe von Warschau wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt.

Am 24.7.1944 wurde das Urteil an dem jungen Mann im Zuchthaus Brandenburg vollstreckt.

Herbstliches KIEZgrillen mit Lampionumzug

von Peter Niemann

Wir laden herzlich zum gemeinsamen herbstlichen KIEZgrillen und einem kleinen Lampionumzug ein!
Wie bereits erfolgreich im Sommer beim Nachbarschaftspicknick erlebt, möchten wir auch im Herbst gemeinsam auf Stadtplatz mit unseren Nachbarn ins Gespräch kommen und laden daher am Freitag, den 08. November ab 16 Uhr zum herbstlichen KIEZgrillen auf dem Stadtplatz (zwischen Gothaer Straße und Eisenacher Straße) ein. Wir stellen ein paar Sitzgelegenheiten und einen Grill zur Verfügung, auf den Grill selbst kommt, was jeder mitbringt und das gemeinsame Buffet lebt von mitgebrachten Salaten, Snacks und Getränken.

Gegen 17:30 Uhr starten wir mit Lampions zu einem kleinen Laternenumzug. (Bitte eigene Lampions mitbringen)

Eine gemeinsame Veranstaltung von Gohliser KIEZgeflüster, der Initiative Weltoffenes Gohlis sowie dem Bürgerverein Gohlis e.V.

Bürgerverein begrünt die Baumscheibe seines Patenbaumes

Mitglieder des Bürgerverein Gohlis fanden, dass die kahle und graue Baumscheibe unseres Patenbaumes –gestiftete anlässlich unseres Wiedereinzuges in s Budde-Haus im April 2019 – etwas Farbe bekommen sollte. Daher entschlossen sich Einige aus unseren Reihen mit einem kleinen Arbeitseinsatz diesem Zustand Abhilfe zu schaffen. Nach nur zweieinhalb Stunden und einem minimalen Aufwand an Pflanzen aus der nahegelegenen Gärtnerei kann sich das Ergebnis ruhig sehen lassen.

Leider gibt es noch zu viele dieser grauen und lieblosen Baumscheiben in unserem Viertel. Gerne nehmen wir Hinweise auf und helfen dabei, diese kahlen Stellen etwas ansprechender zu gestalten. Das kann natürlich auch ohne unsere Hilfe gesehen. Wir würden uns aber über Zusendungen von Vorher- und Nachherbildern freuen.

Die Stadt Leipzig toleriert die Begrünung von Baumscheiben, wenn folgende Regeln befolgt werden:
– Solange eine Baumhalterung vorhanden ist, soll keine Bepflanzung durch Dritte erfolgen.
– Eine Bodenbearbeitung darf nur oberflächlich bis in eine Tiefe von maximal 10 cm erfolgen.
– Kein zusätzliches Pflanzsubstrat auftragen.
– Baumscheibeneinfassungen jeder Art sind nicht erlaubt. (Stolpergefahr, Stadtgestaltung)
– Die Pflanzung von Blumenzwiebeln, Stauden und Sommerblumen ist unproblematisch, wenn bei der Artenwahl beachtet wird, dass eine Endwuchshöhe von 70 cm nicht überschritten wird. (Verkehrssicherheit, Sicht)
– Gehölze und Rasen sind ungeeignet. (starke Wasser- und Nährstoffkonkurrenz zum Baum)
– Ein Radius von 0,5 m um den Stamm ist generell von Pflanzen freizuhalten. (Pflegemaßnahmen in der Baumscheibe, Baumkontrolle
– Für Baumscheiben ohne Bäume gelten die genannten Einschränkungen zur Bodenbearbeitung und zum Abstand vom Stamm nicht. Hier können außerdem auch niedrige Gehölze bis zu einer Endwuchshöhe von 70 cm gepflanzt oder Rasen gesät werden.

Wir motivieren daher alle Gohliserinnen und Gohliser gemeinsam mit uns oder alleine hier aktiv zu werden – für einen lebenswerten und bunten Stadtteil.

Quelle: Stadt Leipzig

Rege Beteiligung am ersten „Jane’s Walk“ in Gohlis

von Wolfgang Leyn

Etwa 50 Interessierte erkundeten am 5. Mai auf Einladung des Bürgervereins das historische Zentrum von Gohlis. Auf dem Weg durch Menckestraße, Poetenweg und Schillerweg erzählte Stadtteilkonservatorin A. Merrem kenntnisreich von Baudenkmalen. Wichtige Station war der frühere Dorfanger in der Menckestraße. Der frühere Vereinsvorsitzende G. Klenk berichtete, wie sich engagierte Gohliser 1992 dort zusammenfanden, um die denkmalgerechte Sanierung verfallener Wohnhäuser zu erreichen.

Der Zuspruch und die vielen Gespräche beim Gehen ermutigen uns, auch im Mai 2020 zu einem solchen Nachbarschaftsspaziergang einzuladen.

Buchmesse: Gelungenes Lese-Café

von Peter Niemann

Der 24. März war ein besonderer Tag. Erstmalig hatten wir die Gelegenheit, einen ganzen Nachmittag im Saal des Budde-Hauses mit einem Kulturprogramm auszugestalten. Anlässlich der diesjährigen Buchmesse und unter dem Titel „Lese-Café“ konnten Interessierte gleich zwei Lesungen erleben. Zwischendurch gab es Kaffee und selbstgebackenen Kuchen.

Die erste Lesung trug den Titel „Die Irrfahrten der Anne Bonnie.“ Dabei nahm die Leipziger Autorin Koschka Linkerhand die etwa 50 Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf die abenteuerliche Reise der legendenhaften Piratinnen Anne Bonnie und Marie Reed. Schon während der Lesung und auch im anschließenden Gespräch verriet uns die Autorin viel über sich und die Hintergründe Ihres Romans.

Anschließend las der Gohliser Autor Günter Gentsch aus einem seiner neusten Essays namens „Der verhängnisvolle Schwur“. Herzstück des Textes sind der Kreterkönig Idomeneus, von dem Homer erzählt, und sein später dramatisch verändertes und von Mozart sogar zur Oper erhöhtes Schicksal. Umrahmt wurde die Lesung von ebenso stimmungsvollen wie passenden musikalischen Beiträgen von Karoline Borleis und Maria Bressel. Auch im Anschluss an diese Lesung machten die etwas mehr 60 Gäste regen Gebrauch davon, mit dem Autor ins Gespräch zu kommen.
Im kommenden Jahr werden wir wieder gemeinsam mit der Initiative Weltoffenes Gohlis Lesungen zur Buchmesse im Budde-Haus anbieten. Wir freuen uns jetzt schon riesig!

Jane’s Walk Gespräche im Gehen – auch in Gohlis

von Wolfgang Leyn

Jedes Jahr am ersten Maiwochenende beteiligen sich in aller Welt Menschen an Spaziergängen durch ihr Wohnviertel, sogenannten Jane’s Walks. 2018 fanden sie in 200 Städten aller Kontinente statt. In diesem Jahr ist auch Leipzig dabei, mit elf Spaziergängen, organisiert vom BUND und dem Verein FUSS e. V. mit Partnern wie dem Bürgerverein Gohlis. Der gemeinsame Weg zu Fuß bietet die Möglichkeit, den Stadtteil zu erkunden, Nachbarn kennenzulernen und mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen, was sie an ihrem Quartier lieben oder was sie ärgert.

Den ersten Jane’s Walk gab es 2007 in Toronto (Kanada) im Gedenken an die amerikanisch-kanadische Stadtaktivistin Jane Jacobs (1916-2006). Diese hatte schon 1961 in ihrem international beachteten Buch „The Death and Life of Great American Cities“ die entmenschlichte, autozentrierte Stadtplanung kritisiert. Die Entwicklung einer Stadt dürfe nicht den Experten überlassen bleiben, alle Bürger müssten daran beteiligt werden.

Diese Ansicht teilt der Bürgerverein Gohlis e. V. Aus diesem Grund beteiligen wir uns mit einem „Stadtteilspaziergang für Entdecker“ an der weltweiten Aktion. Wir spazieren am 5. Mai ab 16 Uhr durch die Menckestraße und den Schillerweg, also durch den einstigen Dorfkern. Für unseren Jane’s Walk im nächsten Jahr sind wir gespannt auf Ihre Tour-Vorschläge.

Sommerfest 2ß18 des Bürgervereins Gohlis e. V.; Foto: Andreas Reichelt

Unbenannte Plätze und Plätzchen in Gohlis – Teil 1

Von Peter Niemann

Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass es zentrale Orte in unserem lieben Stadtteil gibt, von denen niemand so genau weiß, wie sie eigentlich heißen.

Im Frühling des Jahres 2015 waren Tino Bucksch und ich damit beschäftigt, erstmalig ein Sommerfest des Bürgervereins auf dem kleinen, neu gestalteten Platz an der Lindenthaler / Ecke Ei-senacher Straße zu organisieren. Uns fiel sofort auf, dass es sich als etwas knifflig gestalte, über den Platz zu reden, da es augenscheinlich keinen Namen für diesen Ort gab. Zu dem Zeitpunkt vermuteten wir noch, dass es sich um eine Ausnahme handeln musste. Wie sich jedoch zeigen sollte, lagen wir damit völlig falsch. Ein paar Jahre später nämlich, wieder bei der Vorbereitung eines Festes, unterhielten wir uns über einen größeren Platz, den ich häufiger mit meinen Kindern aufsuche, um zu dort zu spielen. Dieser Ort schien uns wie gemacht für ein Sommerfest, und er zeichnet sich zudem durch eine ziemlich zentrale Lage in Gohlis-Mitte aus. Er wird an seinen vier Seiten von den folgenden Straßen eingefasst: Corinthstraße, Heinrich-Budde-Straße, Adolph-Menzel-Straße und Wilhelm-Plesse-Straße. Er bietet mit seiner großen Rasenfläche, ordentlichem Baumbewuchs, zahlreichen Sitzgelegenheiten sowie einem zeitgemäßen Spielplatz jede Menge Aufenthaltsqualität. Was seltsamerweise auch hier fehlte, war ein offizieller Name.

Gerade älteren Bewohnern unseres Stadtteils mag der Platz unter dem Namen „Werderplatz“ geläufig sein. Allerdings teilte uns das zuständige Amt für Geoinformation und Bodenordnung, Abteilung Liegenschaftskataster auf Anfrage mit, dass „in den Liegenschaftskatasterakten (…) keine Lagebezeichnung für das Flurstück 1676 in Gohlis vermerkt“ sei. Entsprechend ist den Karten der letzten Jahrhunderte auch keinerlei Bezeichnung für eben diesen Platz zu entnehmen. Jedoch helfen uns diese dabei zu erahnen, warum er im Volksmund den Namen „Werderplatz“ bekam. Denn ebenso wie alle angrenzenden Straßen ursprünglich einmal nach Orten und Personen des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) benannt waren, erhielt eine dieser Straßen den Namen Werderstraße, benannt nach dem Preußischen General August von Werder (1808-1887). Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde dieser Straße schließlich der uns heute geläufige Name Corinthstraße gegeben.

Erste Namensideen für den Platz beim Sommerfest 2018
Erste Namensideen für den Platz beim Sommerfest 2018

Am 18. August 2018 schließlich veranstalteten wir erstmals an eben jenem Ort unser alljährliches Sommerfest. Das Fest selbst war ein großer Erfolg und bot für uns eine willkommene Gelegenheit, um ein Gespür für das Interesse der Gäste und Anwohner_Innen am Platz zu entwickeln. Auf einer selbstgebauten Tafel haben wir deshalb Vorschläge für Platznamen gesammelt (s. Foto S. 7).
Im Bürgerverein gibt es mittlerweile eine Arbeitsgruppe, die sich der Thematik der unbenannten Plätze und Plätzchen in Gohlis annimmt und die perspektivisch deren Benennung anstrebt. Dabei ist es uns ein großes Anliegen, dass wir möglichst viele Gohliserinnen und Gohliser an diesem Prozess teilhaben lassen. Unterstützen Sie uns daher mit Ihren Anregungen und Ideen, damit wir wirklich gute Namen für unsere Gohliser Plätze finden! Schreiben Sie uns einfach einen Brief oder eine Email mit Ihrem Vorschlag für einen Namen für den o.g. Platz.

Derzeit sammeln wir diese, um einen Favoriten zu küren und diesen dann schließlich an die Stadtverwaltung weiterzugeben. Laut Dienstanweisung Nr. 16/2015 „Verfahrensweg Straßenbenennung“ ist das Amt für Statistik und Wahlen für die Platz- und Straßenbenennungen in Leipzig zuständig. Dort werden Vorschläge für Benennungen registriert. Nach Zustimmung aller Gremien der Stadtverwaltung haben wir somit eine realistische Chance, daran mitzuwirken, den namenlosen Plätzen unseres Stadtteils einen Namen zu verleihen!

In den nächsten Ausgaben des Gohlis Forums werden wir Ihnen weitere kleine wie auch große Plätze unseres Stadtteils vorstellen, die ebenfalls (noch) keinen richtigen Namen tragen. Bleiben Sie gespannt!

Sommerfest des Bürgervereins auf dem (noch) namenlosen Platz zwischen Corinth-, Wilhelm-Plesse-, Heinrich-Budde- und Adolph-Menzel-Straße; Foto: Andreas Reichelt