Brandzeichen: Die Geschichten eines Gohliser Hauses
von Gotthard Weidel
Die Kinder unseres Hauses, Schorlemmerstr. 8, springen seit 78 Jahren über kleine oder größere schwarze Vertiefungen hinweg, die sichtbar in einigen Treppenstufen eingebrannt sind. Bewohner und Besucher des Hauses schreiten achtlos darüber. Wer kennt schon die Geschichte dieser Flecken auf der Treppe oder des Hauses?
Ursprünglich war das Wohnhaus für eine großbürgerliche Gesellschaftsschicht mit Etagenwohnungen von 350 qm Wohnfläche geplant. Das Haus wurde 1911 fertiggestellt. Neben den mit Stuckdecken und Parkett ausgestatteten Gesellschaftsräumen gab es ein Fräuleinzimmer für das Kindermädchen und einen kleinen Raum für die „Minna“, welche den Haushalt führte. Bereits fünf Jahre später wurden die Wohnungen geteilt, um sie besser vermieten zu können. Es entstanden Wohnungen mit „nur“ 175 qm Wohnfläche. Ab diesem Zeitpunkt wohnten laut Leipziger Adressbuch in dem Haus Geschäftsinhaber, Prokuristen, Ärzte, Akademiker, Künstler usw. Die Adresseinträge wurden ausschließlich über den Beruf der Ehemänner definiert. Ihre Frauen erfasste man nur mit dem Vornamen, Kinder gar nicht. Vorhandene Publikationen ehemaliger Mieter oder Berichte heutiger Bewohner halfen, etwas über die Geschichte des Hauses zu erfahren und Informationen über nachfolgende Personen zu sammeln:
– Alfred Doren: In der 1. Etage wohnte von 1911 – 1926 Professor Alfred Doren (15.5.1869 – 28.7.1934) mit seiner Frau Anna. Als Wirtschaftshistoriker lag sein Arbeitsschwerpunkt auf dem italienischen Zunft- und Gildewesen der Renaissance. Er vertrat, im Gegensatz zu Karl Marx, die These, dass die merkantilen italienischen Kaufmannsgilden einen wesentlichen Anschub für die Entstehung des Kapitalismus leisteten. Nach seinen Ausführungen lagen die Ursprünge des Kapitalismus in Italien. Aufgrund seiner deutsch – nationalen Gesinnung meldete er sich während des 1.Weltkriegs freiwillig als Soldat. Weder seine Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche, noch seine nationale Einstellung sollten ihn vor der Verfolgung der Nationalsozialisten schützen. Professor Alfred Doren gehörte zu den ersten jüdischen Professoren, die von der Universität Leipzig 1933 zwangsemeritiert wurden. Kurze Zeit später verstarb er 1934 in Berlin.
– Ulrich Steindorff: Der Sohn des Ägyptologen Prof. Steindorff, Ulrich Steindorff (10.3.1888 – 21.6.1978), studierte von 1908 – 1915 Jura, Philosophie und Nationalökonomie. Der junge Steindorff war als expressionistischer Schriftsteller bekannt. Sehr früh veröffentlichte er Gedichtbände und Texte. Als Schauspieler stand er auf der Bühne. Bereits 1909, also mit 21 Jahren, heiratete er in Gohlis seine Frau Marguerite, ohne eine sichere Existenz vorweisen zu können. Offensichtlich mietete der im Nachbarhaus wohnende Vater für seinen Sohn und für dessen junge Frau von 1911-1912 eine günstige Dachwohnung in der 3. Etage unseres Hauses. Später wanderte Ulrich Steindorff in die USA aus, übersetzte Mark Twain für das deutsche Publikum und schrieb mit an Drehbüchern für Hollywood. Noch rechtzeitig erreichte er bei der US-Einwanderungsbehörde, dass sein berühmter Vater, der als Jude seit 1933 nicht mehr an der Universität Leipzig lehren durfte, mit seiner Frau im Juli 1939 in die USA einwandern konnte.
– Jan Tschichold: Der Grafiker und Schriftgestalter Jan Tschichold (2.4.1902 – 11.8.74) lebte mit seiner Frau Edith von 1921 – 1922 im Erdgeschoss. Seine Schriftgestaltung war durch die „Neue Typographie“ bekannt. Nach Machtübernahme der Nazis wurde diese Form von Typographie verdrängt. Beide Ehepartner wurden 1933 verhaftet und emigrierten nach einer vierwöchigen Haft in die Schweiz. Jan Tschichold erhielt 1965 den „Gutenbergpreis der Stadt Leipzig“. Im Jahr 1966 entwickelte er die Schriftart Sabon. Eine Gedenktafel an der Gartenpforte unseres Hauses erinnert an ihn.
– Siegmund Fein: Viel dramatischer verlief das Leben des Rauchwarenhändlers Siegmund Fein (9.7.1880 – 1942). Er wohnte mit seiner Frau Erna (1888 – 1957) und seiner Tochter Marianne (16.9.1921 – ?) von 1936 – 1939 in der 2. Etage. Sein Großvater, Nachmann Fein, erwarb als galizischer Jude 1870 die Staatsbürgerschaft des Königreich Sachsen, um als Rauchwarenhändler zur Leipziger Messe noch erfolgreicher, geschäftlich tätig zu sein. Nach 1933 schränkten die nationalsozialistischen Machthaber die Geschäftstätigkeit von Sigmund Fein immer stärker ein. Die ganze Familie geriet am 9.November 1938, während der Reichsprogromnacht, in einen furchtbaren Strudel von Gewalt und Barbarei. Die Familie Siegmund, Erna und Marianne Fein konnten sich noch rechtzeitig in die USA retten.
Erna Fein berichtete später an die Leo Baeck Gesellschaft:
Am 9. November 1938 wurden mein Mann und ich früh gegen 6 Uhr geweckt und es kamen zwei Männer, die sich als Nazibeamte auswiesen, die beauftragt wären, uns zu einem Verhör abzuholen…
Mit meinem Mann ist dann Folgendes geschehen. – Er ist verhört, gepeinigt und geschlagen worden und am Abend ins Leipziger Gefängnis gekommen. Von dort ist er nach Buchenwald gekommen…
Am 12. Dezember kam dann mein Mann als gebrochener und todkranker Mann nach Hause. Wir konnten uns ein Peru-Visum besorgen u. dann sollte er das Compensationsgeschäft wegen der Nazis noch abschließen…
Zwangsarisierung: Trotzdem mein Mann so schwer krank war, Lungenentzündung und Entkräftung, schleppte ihn der Nazibeamte frühmorgens bei Winterkälte ins Geschäft. – Dort wurde er von dem Nazibeamten und dem schon eingesetzten „Treuhänder“ wie ein Krimineller über alle Geschäftssachen verhört …
Am 20. Dezember ist er dann nach Brüssel geflohen. Während seiner Krankheit nach Buchenwald haben sich einige christliche Ärzte, wie auch einige jüdische Ärzte, geweigert, ihn zu behandeln.
Ihre eigene Flucht schildert sie folgendermaßen:
1. Juni 1939: Früh um 8 Uhr ging der Zug nach Brüssel. – In Aachen an der Grenze
wurde ich als Jüdin aus dem Zug geholt… Alle Koffer wurden geöffnet…
Ich selbst musste mich nackt ausziehen und 2 Frauen untersuchten mich an meinem Körper und sahen meine Kleider durch…
Quelle: Sammlung der Leo Baeck Gesellschaft
– Raimund Köhler: Die längste Zeit von 1929 -1956 wohnte in der 1. Etage Dr. Raimund Köhler (13.12.1878 – 24.5.1961) mit seiner Frau Emmy (12.3.1886 – 1959/60?). Raimund Köhler wurde bereits 1917 in die Leitung der Leipziger Messe berufen, um die Messe auf die wirtschaftlichen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts auszurichten. Gemeinsam mit dem jüdischen Industriellen Philipp Rosenthal führte er das doppelte M als Messesignet der Mustermesse ein und integrierte die technische Messe. Aussteller wurden gezielt eingeladen und Besucher geworben. Unter seiner Leitung nahm die Leipziger Messe eine führende Stellung in Deutschland und der Welt ein. Es ist nicht zufällig, dass in einer Figurengruppe bekannter Persönlichkeiten über dem Eingang zum Petershof in der Petersstraße Raimund Köhler, mit dem Messesignet in der Hand, an der Seite des jüdischen Bankiers Hans Kroch und des Oberbürgermeister Dr. Karl Rothe steht. Nach der Machtübernahme der Nazis verhinderte Raimund Köhler bis 1936 eine Umbenennung der Philipp-Rosenthal-Straße. Auf Betreiben des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann wurde er im gleichen Jahr aus dem Messeamt entlassen. Nach Ende des 2. Weltkrieges setzte sich Raimund Köhler bei den sowjetischen Besatzungsbehörden für eine Messeschau im Herbst 1945 und 1946 für die Wiedereröffnung der Leipziger Messe ein. Im Jahr 1956 verzog das Ehepaar Köhler nach Westdeutschland. Es vermachte der Friedenskirchgemeinde einen erheblichen Betrag, der 1990/91 zum Aufbau des neuen Gemeindehauses genutzt werden konnte.
Am 4.12.1943 erfolgte ein schwerer Bombenangriff auf Leipzig. Der Dachstuhl des Hauses wurde durch Phosphorbomben in Brand gesetzt. Das Feuer breitete sich aus und vernichtete auch die 2. Etage. Auf der Treppe konnte der brennende Phosphor gelöscht werden. Das Haus galt als unbewohnbar.
Die Wohnungsnot in der Nachkriegszeit war so groß, dass nach Absprache mit der Hausbesitzerin Emmy Köhler der Kaufmann Erhard Köhler (13.01.1909 – 30.11.1978) die notwendigen Kredite besorgte und Bauarbeiten organisierte. Das fehlende Dach wurde als Notdach errichtet. Danach erfolgte der Ausbau der Wohnungen in der 2. Etage. Nach dem Ableben der Besitzer Emmy und Raimund Köhler übernahm und verwaltete die Kommunale Wohnungsverwaltung Leipzig/ (KWV) ab 1961 das Haus. In der Nachkriegszeit wies man in die „gutbürgerlichen Wohnungen“ zwei Teilhauptmieter und manchmal noch ein „Fräulein“ ein. Es ist heute kaum vorstellbar, wie unterschiedliche Mietparteien ein gemeinsames Bad mit Toilette nutzten oder sich in eine Küche „reinteilten“.
In den folgenden 40 Jahren wurde das Notdach immer undichter. Am Anfang ließen sich die Tropfen noch mit Schüsseln auffangen. Später standen Wannen unter undichten Stellen. Vor jeder Regenperiode gab es ein „Wannen – Ballett“. Mit Regenwasser gefüllte Wannen mussten entleert werden. Dank der Bewohner, die immer wieder die Dachschäden notdürftig reparierten, blieb das Haus bewohnbar. In der Zwischenzeit hatte die KWV das Haus längst aufgegeben.
Im Frühjahr 1990 wandten sich die Mieter mit dem Antrag an die Stadt Leipzig, das baufällige Gebäude zu kaufen, um es gemeinsam zu sanieren und um die entstehenden Eigentumswohnungen selbst zu nutzen. Eine Eigentümergemeinschaft löste die anfallenden Grundstücks- und Bauprobleme. Der Dachstuhl konnte 1996 wieder aufgerichtet werden. Verbliebene Mieter und neue Wohnungseigentümer bezogen im gleichen Jahr das umfänglich renovierte Haus.
Die Eigentümergemeinschaft feierte 2021 das 25-jährige Jubiläum ihrer Gründung. Es war ein Anlass, nach den damaligen Bewohnern zu fragen, die in der Vergangenheit im Haus wohnten, und den Ursachen der schwarzen Brandflecke auf der Treppe nachzugehen. Aus Bildern und Zeitdokumenten entstand eine kleine Ausstellung. Sie befindet sich im Treppenhaus.
Wir können Brandmale, die sich im Laufe von 100 Jahren in die deutsche Geschichte einbrannten, nicht ausradieren. Aber – wir können mit Hilfe einer Hausgeschichte verdeutlichen, wie Vergangenheit und Gegenwart, Niedergang und Aufbau zusammengehören.