Skip to content Skip to left sidebar Skip to footer

Ein Gohliser? Der Kindermörder in der Nachbarschaft

von Matthias Judt

Werner Julius Eduard Catel wurde am 27. Juni 1894 in Mannheim geboren. Er besuchte Gymnasien in Leipzig, Köln und Halle (Saale) und studierte Medizin in Halle und Freiburg. Dort schloss er sein Studium 1920 mit einer Promotion ab und arbeitete ab 1922 am Universitätsklinikum Leipzig. 1927 nahm Werner Catel seinen Wohnsitz im Kickerlingsberg 12, was in nicht wenigen Publikationen als Adresse in Gohlis vermerkt wird, weil die Straße Kickerlingsberg teilweise dort verläuft. Der Teil, der auch die Hausnummer 12 beherbergt, liegt jedoch schon im Stadtteil ZentrumNord. (1) Der spätere Kinder(massen)mörder war also kein Gohliser, lebte aber in der unmittelbaren Nachbarschaft dazu.

Werner Catel interessierte und engagierte sich schon sehr früh in Fragen des „unwerten Lebens“. 1924 traf er in Innsbruck auf einen Verfechter der „Vernichtung unwerten Lebens“, dem Psychiater Alfred Hoche (1865-1943) (2), der gemeinsam mit dem Juristen Karl Binding (1841-1920) (3) dazu bereits 1920 im Leipziger Felix-Meiner-Verlag, eines auf Fragen der Philosophie spezialisieren Verlages, ein einschlägiges Buch veröffentlicht hatte. (4)

1926 habilitierte Catel in Leipzig und wurde Oberarzt am Universitätsklinikum Leipzig. 1932 wechselte er kurz an die Berliner Charité, kehrte aber bereits 1933 nach Leipzig zurück, wo er am 1. Oktober 1933 Direktor der Universitätskinderklinik wurde. Kurz zuvor war sein Vorgänger im Amt, Siegfried Rosenbaum (1890-1969) (5), wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem Amt gedrängt worden und emigrierte wenig später nach Palästina. (6) Catel wurde zum Professor für Neurologie und Psychiatrie berufen und trat als solcher der NS-Ärzteschaft bei. Ein Beitritt in die NSDAP blieb ihm zunächst wegen einer Aufnahmesperre verwehrt, wurde aber von ihm am 1. Mai 1937 – gemeinsam mit seiner Frau – „nachgeholt“. (7)

1939 veranlasste Catel den Vater eines schwerbehinderten Kindes aus der Umgebung von Leipzig, ein Gesuch an den „Reichsführer“ Adolf Hitler zu senden, in dem er darum bat, seinem Kind den „Gnadentod“ zu gewähren. Catel hatte diagnostiziert, dass der Junge „nie normal“ werde. (8) Hitler sandte daraufhin seinen Leibarzt, Karl Brandt (1904-1948) nach Leipzig, der Catel die Nachricht übermittelte, er habe freie Hand und ihm werde Straffreiheit zugesichert. Am 25. Juli 1939 „schläferte“ Catel den Jungen „ein“ – der Beginn der Kindereuthanasie in Deutschland, der allein in Leipzig mehr als 500 Jungen und Mädchen zum Opfer
fallen sollten. (9)
Von 1939 bis 1945 wirkte Catel als „einer der drei Gutachter (10) im „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leidens“, der Tarnorganisation für die systematische Tötung von Tausenden schwer geschädigter Kinder und Jugendlichen (‚Kindereuthanasie’). Unter dem Deckmantel der Humanität (‚Leidminderung’) wurden dort die Meldung und Vernichtung „unwerten Lebens“ gerechtfertigt.“ (11) In seiner Gutachtertätigkeit entschied Catel in der Regel „nach Aktenlage“ über Leben oder Tod der von den Gesundheitsämtern des Reiches gemeldeten behinderten Kinder. (12)

Ab 1940 wurden in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Leipzig-Dösen Kinder und Jugendliche im Rahmen des Euthanasieprogramms getötet, ab 1941 auch in der Leipziger Universitätskinderklinik. Sie war die einzige universitäre Kinderklinik in Deutschland, die sich am Kindereuthanasieprogramm im Nationalsozialismus beteiligte. (13) Dort wurde eine sogenannte Kinderfachabteilung eingerichtet, von denen es in Deutschland etwa 30 in kommunalen, Landes- und auch Privatkliniken gab. Sie alle nahmen an der Euthanasie von Kindern teil.

Am 15. November 1945 wurde Catel als Direktor der Leipziger Universitätskinderklinik entlassen. Er versuchte noch, sich selbst als „Antifaschisten“ und „Antimilitaristen“ darzustellen und legte „Persilscheine“ vor, in denen ihm testiert wurde, „in jeder Hinsicht die sozialistischen weltanschaulichen Gedankengänge in sich aufzunehmen und innerhalb seines Bekanntenkreises dafür zu werben.“ Er selbst kündigte noch an, alle NS- und antisemitischen Passagen aus seinem 1939 erschienenen Lehrbuch „Die Pflege des gesunden und des kranken Kindes“ zu entfernen. (14) Das gelang ihm offensichtlich im Westen Deutschlands, wohin er 1946 geflohen war. Noch im Jahr 1964 schrieb „Der Spiegel“ „Als Professor für Kinderheilkunde besitzt Werner Catel europäischen Rang. Sein dreibändiges Werk ‚Differenzialdiagnose von Krankheitssymptomen bei Kindern und Jugendlichen’ gilt als eines der modernsten des Fachgebietes. ‚Die Pflege des gesunden und kranken Kindes’, mittlerweile in achter Auflage und ebenfalls in mehreren Sprachen, ist das deutsche StandardLehrbuch für die Schwestern-Ausbildung.“ (15)

Nichtsdestotrotz war sein Neustart im Westen holprig. Zwar wurde er in Wiesbaden in Bezug auf seine Tätigkeit im NS als „unbelastet“ eingestuft. 1949 platzte ein erster Prozess gegen ihn, verhinderte aber, dass Catel einen Ruf an die Universität Marburg folgen konnte. Am 1. Juli 1954 erhielt er an der Universität Kiel eine Professur für Kinderheilkunde und wurde Direktor der Kieler Universitätskinderklinik. (16)

im August 1960 löste ein Artikel im Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel (17) eine Kettenreaktion, in deren Folge Catel am 12. September 1960 einen Antrag auf vorzeitige Emeritierung – „krankheitshalber“ – stellte.

Auch danach verteidigte Catel die Tötung von geistig und körperlich behinderten Menschen. Anfang 1964 gewährte Catel dem Spiegel ein Interview, das Bände sprach. Auf die an sich schon inhumane Frage, wie man feststellen könne, dass ein Kind „im untermenschlichen Stadium verharren werde“, antwortete Catel: „Glauben Sie mir, es ist in jedem Fall möglich, diese seelenlosen Wesen von werdenden Menschen zu unterscheiden. […] Irgendwann aber steht absolut fest, daß keine Entwicklung in Gang kommt: nichts als Lallen, keine sinnvoll gesteuerte Bewegung.“ Nach längeren Untersuchungen an den betroffenen Kindern müsse „der Arzt, der die Diagnose gestellt hat, die Situation mit den Eltern durchsprechen. Er muß ihnen die Wahrheit sagen, nämlich, daß diesem Wesen nicht mehr zu helfen ist, daß es nie ein Mensch werden wird.“ Selbst führende Theologen der Zeit hätten erkannt, dass in „Wesen, deren Seelenleben sich nicht über das Niveau pflanzlichen oder tierischen Lebens erhebt, könne keine Religiosität aufkommen“ könne. „Solche Wesen hätten daher auch keinen Ewigkeitswert.“ (18)

Auch dieses Interview hatte Folgen. 1965 wurde beantragt, Catel die Approbation zu entziehen, was noch scheiterte. Im Jahr darauf verteidigte er die Euthanasie erneut als Ergebnis „humaner Indikation“.19 Nachdem Catel 1974 in einer Autobiografie noch versucht hatte, sich als Gegner des NS darzustellen (19), wollte er sich an seiner letzten Universität noch ein Denkmal setzen. Testamentarisch verfügte Catel, dass nach seinem Tod (1981) sein Vermögen an die Kieler Universität fallen solle, mit dem eine „Werner-Catel-Stiftung“ für experimentelle und naturwissenschaftliche Forschung gegründet werden solle. Nach massiven Protesten der Studierenden und der Öffentlichkeit lehnte die Universität das Ansinnen 1984 ab. (20)

2006 gab der Senat der Christian-Albrechts-Universität in der causa Catel eine eindrucksvolle Erklärung ab: „Die Verantwortlichen der Kinderklinik, die Medizinische Fakultät und die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verurteilen Catels Mittäterschaft an der ‚Kindereuthanasie’. Die Berufung auf einen Lehrstuhl der Kieler Universität ist nicht zu rechtfertigen, wenn auch offen bleiben muss, inwieweit damals den Berufenden die Verstrickung Catels in die ‚NS-Kindereuthanasie’ bekannt war. Es gehört zu den elementaren ethischen Grundsätzen des Arztberufes, menschliches Leben zu schützen und nicht zu töten.“ (21)

(1) vgl. Eene, meene, muh – und raus bist du. Kindereuthanasie in Leipzig. Eine Erinnerung. Schüler auf der Suche nach verblassten Spuren (im Folgenden „Kindereuthanasie in Leipzig“), Leipzig o.J., ohne Seitenzählung. In dieser und anderen Quellen wird Catels Adresse Kickerlingsberg 12 im Stadtteil Gohlis verortet. Dieser Teil der Straße liegt jedoch schon im Stadtteil Zentrum-Nord.
(2) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Hoche.
(3) Karl Binding fungierte in den akademischen Jahren 1892/93 und 1908/09 als Rektor der Leipziger Universität. 1909 wurde ihm die Ehrenbürgerwürde der Stadt Leipzig verliehen, die erst 2010 wegen seiner Beteiligung an der Publikation des Buches aberkannt wurde (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Binding).
(4) Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920.
(5) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Siegfried_Rosenbaum.
(6) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Catel.
(7) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Catel.
(8) vgl. Christoph Buhl, Von der Eugenik zur Euthanasie. Eine Spurensuche in Leipzig, Diplomarbeit am Fachbereich Sozialwesen der HTWK,. Leipzig 2001, S. 41.
(9) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Catel.
(10) Die beiden anderen Gutacher waren der Kinderarzt Ernst Wentzler (1891-1973) und der ebenfalls zeitweilig in Leipzig tätige Psychiater Hans Heinze (1895-1983). Vgl. Ernst Klee: Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord. Frankfurt am Main 2004, S. 130f; Udo Benzenhöfer: Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe. 2. Auflage. Göttingen 2009, S. 104f.
(11) Stellungnahme des Senats der Christian-Albrechts-Universität Kiel vom 14. November 2006 zu Werner Catel, hier zitiert nach: https://www.uni-kiel.de/ns-zeit/allgemein/catel-werner.shtml. Siehe auch: Hans-Christian Petersen/ Sönke Zankel, „Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen mal absieht“ – Werner Catel und die Vergangenheitspolitik der Universität Kiel, in: Hans Werner Prahl/ Hans-Christian Petersen/ Sönke Zankel (Hg.): Die Uni-Formierung des Geistes. Universität Kiel und der Nationalsozialismus, Band 2, Kiel 2007, S. 133-178; Christian Andree, „Werner Catel (1894-1981). Seine Verstrickungen in das Kindereuthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Gedanken, Taten und Folgen“, in ders., Die Universitätskinderklinik der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, 1906-2006: Eine medizinhistorische Studie zum hundertjährigen Bestehen. Kiel 2006, S. 178-201.
(12) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Catel; „505. Kindereuthanasie-Verbrechen in Leipzig. Wanderausstellung, entstanden unter Beteiligung von Schülern der Henriette-Goldschmidt-Schule Leipzig, des Evangelisches Schulzentrum Leipzig, der Petri-Mittelschule und des Schulalternativ-Projekt „Youth Start“ auf Initiative der Stadt Leipzig“, 27.Januar 2007
(13) vgl. Euthanasieverbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus in Leipzig. Informations-Material fur Lehrer und Schüler der 9. und 10. Klassen in Mittelschulen und Gymnasien in Leipzig, 5. März 2007, S. 11
(14) wiedergegeben und zitiert nach: Kindereuthanasie in Leipzig
(15) Der Spiegel vom 17. Februar 1964.
(16) vgl. : Kindereuthanasie in Leipzig,
(17) „Euthanasie: Eingeschläfert“, in Der Spiegel vom 17. August 1960.
(18) wiedergegeben und zitiert aus „Aus Menschlichkeit töten?“, in Der Spiegel vom 19. Februar 1964. 19 vgl. : Kindereuthanasie in Leipzig,
(19) vgl. : Kindereuthanasie in Leipzig,
(20) vgl. ttps://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Catel.
(21) Stellungnahme des Senats der Christian-Albrechts-Universität Kiel vom 14. November 2006 zu Werner Catel, hier zitiert nach: https://www.uni-kiel.de/ns-zeit/allgemein/catel-werner.shtml.

Abonniere unseren Newsletter