Jüdische Unternehmer in Gohlis/Möckern: Simon Reich und seine Haar-Zurichterei
von Reinhard Böhm, Text bearbeitet durch Matthias Judt
In der heutigen Bothestraße (der früheren Johann-Georg-Straße) befinden sich unter der Hausnummern 3 und 5 ein kürzlich saniertes Wohn- und ein Geschäftshaus. Damals verlief die Grenze zwischen Gohlis und Möckern in der Mitte der Straße, heute stellt die Bahnlinie die Grenze dar. Damit gründete der jüdische Kaufmann Simon Reich in Möckern ein Unternehmen, das später zu einer Betriebsstätte eines anderen Unternehmens in Gohlis wurde.
Simon Reichs Firma war Spezialbetrieb für die Zurichtung von Dachshaaren zu Rasierpinseln, Bürsten- und Besenbinderei. Nr. 3 wurde das Betriebsgrundstück und Nr. 5 das Wohnhaus der Leipziger Familie Reich. Deren Firma war seit dem 24.05.1909 im Handelsregister beim Amtsgericht Leipzig unter der Nummer HR 14048 eingetragen. Simon Reich wurde am 10.10.1868 in Kolomea, damals Österreich- Ungarn, geboren und war seit 1913 deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Kolomea (ukrainisch Kolomyja) liegt heute in der Westukraine, war einmal polnisch und fiel während der Teilung Polens 1772 an Habsburg. Die Stadt hatte einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil (etwa 50 Prozent), hauptsächlich Chassiden- Strenggläubige mit mystischen Ausprägungen. Die nördliche Innenstadt wurde wiederum von deutschen Siedlern 1818 gegründet und hieß damals Baginsberg.
Um die Wende zum 20.Jahrundert kamen viele Juden, die z.B. im Rauchwarengeschäft tätig waren, aus diesem Grenzgebiet der Habsburger Monarchie zum russischen Zarenreich nach Leipzig. Sie trugen hier zum wirtschaftlichen Erfolg und dem Ruf der Stadt als Rauchwarenzentrum wesentlich bei. Auch andere kamen, unter ihnen Simon Reich.
Das Unternehmen des Kaufmanns Simon Reich wuchs ab 1909 schnell. Anderthalb Jahrzehnte später besaß es bereits einen beträchtlichen Umfang. 1925 waren ca. 60 Mitarbeiter beschäftigt und erbrachten einen Umsatz von über einer Million Reichsmark. Nach der Machtübernahme durch die Nazis im Jahre 1933 geriet Reichs Firma unter Druck. Die Parolen der Nazis: „Kauft nicht bei Juden“ wirkten auch bei ihr. Der Umsatz der Haar-Zurichterei wurde wesentlich verringert, Leute mussten entlassen werden, so dass in den 1930er Jahren nur noch ca. 30 Mitarbeiter in der Firma beschäftigt waren.
Nachdem der Druck der Nationalsozialisten infolge ihrer Rassenideologie auf Juden immer mehr zunahm, eine sinnvolle wirtschaftliche Betätigung und ein gleichberechtigtes Leben nicht mehr möglich war, entschied sich Familie Reich rechtzeitig für eine Ausreise (Flucht) aus Nazi- Deutschland. Simon Reich, dessen erste Frau mutmaßlich aus Italien stammte und Deutschland zu kühl fand, hatte nach der Trennung neu geheiratet.
Mit seiner zweiten Frau Rosa verließ er im September 1935 Leipzig zur Kur nach Karlsbad und meldete sich am 31.08.1936 nach Nordfrankreich, Bethisy- St. Pierre in der Picardie, am Südrand des Waldes von Compiegne, ab. Simon und Rosa Reich gelang nach Beginn des II.Weltkrieges schließlich die Flucht aus Frankreich nach Portugal. Von dort glückte ihnen die Einwanderung in die USA. Simon Reich und seine Frau Rosa sind am 21.09.1951 in New York verstorben. Simon Reichs Söhne aus erster Ehe Josef, Leon, David, Moritz (Maurice), Hermann (bereits vor Simon Reich verstorben) und Ignaz (Irving) und ihre Nachfahren leben heute in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Brasilien. Rosa Reich selbst war kinderlos geblieben.
Bei der Flucht von Simon und Rosa Reich aus Deutschland wurde das gesamte Geschäftsinventar in beträchtlichem Wert zurückgelassen. Nach der sogenannten „Ausreise“ wurde gegen Reich durch das Finanzamt Leipzig- Nord am 1. Februar 1937 eine Arrestanordnung erlassen und aus `Ansprüchen` des Reichsfiskus auf alle beweglichen und unbeweglichen Vermögen der dingliche Arrest angeordnet und eine Sicherungshypothek im Grundbuch eingetragen. Das Unternehmen des Simon Reich wurde nach Angaben, die ein Werkmeister nach dem II.Weltkrieg machte, von einem Zwangsverwalter verschleudert. Der Betrieb sei über Nacht versiegelt und beschlagnahmt worden. Unterlagen zum Nachweis dieses Sachverhalts konnten aber nicht mehr aufgefunden werden.
Die beiden Immobilien des Herrn Simon Reich in der heutigen Bothestraße und dazu ein weiteres Grundstück in der Kirschbergstraße 71 in Möckern, das Reich vor 1933 erworben hatte, wurden am 18. Mai 1938 versteigert und gingen gegen ein Meistgebot von 43.000 Reichsmark an die Bankiers Herbert und Ralph Frege. Sie verkauften zumindest das Betriebsgrundstück in der Bothestraße 3 weiter an einen Karl Heyne , der fortan dort eine Außenstelle seines Unternehmens „Motoren-Heyne“ unterhalten sollte. Die anderen Grundstücke wurden nach einem sogenannten Zergliederungsanbringen abgetrennt.
Mit Schreiben vom 31. Dezember 1938 teilte die Industrie- und Handelskammer Leipzig dem Amtsgericht- Registergericht- mit, dass die im Handelsregister eingetragene Firma Simon Reich seit dem Verzug des Inhabers nach Frankreich in Leipzig keine Geschäftstätigkeit mehr ausübe. Die Firma wurde daraufhin am 8. Dezember1939 von Amts wegen im Handelsregister gelöscht.
Karl Heyne verkaufte wiederum am 13. September1939 das Betriebsgrundstück Bothestraße 3 weiter an Kurt und Max Kurt Kunter in Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die hier eine Spezialreparaturwerkstatt für Elektromotoren, Generatoren und Transformatoren aller Fabrikate und Stromarten betrieben.
Nach 1945 wurde die Reparaturwerkstatt verstaatlicht und bis 1990 dem VEB Elektromotorenwerk Grünhain zugeschlagen, welcher wiederum dem Kombinat VEM angehörte. Sie befasste sich hauptsächlich mit der Reparatur von Ankern für E- Motoren der Balkancar- Hebezeuge. Sie wurde nach 1990 geschlossen.
Nach langem Leerstand, Verfall und Vermüllung des ehemaligen Betriebsgrundstückes Bothestraße 3 haben die heutigen Eigentümer die alte Hülle sorgsam restauriert, denkmalgerecht mit der alten Firmenbezeichnung versehen und damit ein schönes Wohnhaus zur Freude der Mieter und Anwohner in der Bothestraße entstehen lassen.