von Andreas Praße

Seit 2006 erinnern in Leipzig so genannte Stolpersteine an verschiedenen Orten an ehemalige Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt, die aus ethnischen, politischen und religiösen Gründen oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung vom Nazi-Regime verfolgt oder deportiert wurden und die schließlich zu Tode gekommen sind. Die Betonsteine mit verankerter Messingplatte in einer Größe von 10x10x10 Zentimetern werden vom Kölner Bildhauer Gunter Demnig verlegt. In Leipzig gibt es mittlerweile 360 Steine an 149 Orten. Davon liegen 22 in Leipzig-Gohlis vor elf Häusern. Es sind:

Coppistraße 65 – Rudi Opitz: 1908 Leipzig – ermordet am 07.08.1939 KZ Buchenwald)
Rudi Opitz wuchs in seinem Elternhaus in der Blumenstraße 36 auf und erlernte nach dem Abschluss der Volksschule bei der Firma Körner und Sohn den Beruf eines Reproduktionsfotografen und Chemografen. Seit 1923 engagierte er sich im Kommunistischen Jugendverband und ab 1931 in der KPD, in der er Mitglied der Stadtleitung wurde. Am 23.08.1935 wurde er wegen seiner politischen Tätigkeit („Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“) zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, die er bis August 1937 im Zuchthaus Zwickau verbüßte, von wo er direkt in das KZ Buchenwald verbracht wurde.
Rudi Opitz arbeitete im Häftlingskommando Buchdruckerei und Bücherei sowie im Fotolabor des KZ. Diese Tätigkeit nutzte er, um Negativmaterial der Verbrechen der SS über entlassene Häftlinge aus dem Lager zu schmuggeln, das auch in der internationalen Presse erschien. Als er 1939 von seiner geplanten Entlassung erfuhr, versuchte Rudi Opitz, an weiteres Fotomaterial zu gelangen, was jedoch bei einer Routinekontrolle aufgedeckt wurde. Daraufhin wurde er im Bunker des KZ furchtbar misshandelt, um Namen von Mitverschwörern zu erpressen, und letztendlich vom berüchtigten SS-Scharführer Sommer ermordet. Die Akten vermerken jedoch: 7.8.1939, 9:15 Uhr „Freitod durch Erhängen“.

Corinthstraße 9 – Richard Otto Keil: 1905 Leipzig – hingerichtet am 24.05.1941 Berlin.
Richard Otto Keil wurde in Leipzig-Plagwitz geboren und war mit Hedwig Keil verheiratet. Wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas und seiner Ablehnung des Nationalsozialismus wurde er am 19.06.1937 von einem Sondergericht zu vier Jahren Gefängnishaft verurteilt, die er in Bautzen und Heeselicht (Burg Stolpen) bis zu seiner Entlassung im Juli 1940 verbüßte. Vermutlich wegen Kriegsdienstverweigerung wurde Richard Otto Keil am 19.12.1940 in Leipzig erneut verhaftet und im Februar 1941 nach Berlin-Moabit überstellt. Der 2. Senat des Reichskriegsgerichts verurteilte ihn am 18.04.1941 wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode. In Brandenburg-Görden wurde Richard Otto Keil am 24.05.1941 enthauptet.

Dietzgenstraße 13 – Familie Gutter: Ruth 1922 Leipzig – 02.01.1943 KZ Auschwitz, Rosa 1927 Leipzig – Freitod am 14.05.1943 Leipzig) und Salomon 1928 Leipzig – Freitod am 21.10.1942 Leipzig
Die Geschwister wuchsen im jüdischen Glauben bei ihren Eltern in der Metzer Straße 13 (heute Dietzgenstraße) auf. Der Vater, Josef Gutter, verließ die Familie aufgrund von Gesetzeskonflikten und drohender Abschiebung und emigrierte wahrscheinlich nach Palästina. Ruth Gutter folgte 1939 ihrer Familie in den evangelisch-lutherischen Glauben und trat aus der Israelitischen Religionsgemeinde aus. Vermutlich trat sie der Versöhnungskirchgemeinde bei. Am 16.03.1942 kam ihr Sohn Karlheinz zur Welt, der heute in Norderstedt lebt. Am 11.09.1942 wurde Ruth Gutter wegen Vergehen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung inhaftiert, jedoch vom Gericht einstimmig freigesprochen. Dennoch wurde sie ins Leipziger Polizeigefängnis eingewiesen, wo ihr der Zwangsname Sara eingetragen wurde. Am 05.12.1942 wurde Ruth Gutter nach Auschwitz deportiert, in dem sie weniger als einen Monat überlebte und ermordet wurde. Rosa Gutter wählte, nachdem sie vom Tod ihrer Schwester und ihres Bruders erfahren hatte, den Freitod und stürzte sich vom Dach des Wohnhauses. Wahrscheinlich wurde ihre Asche am 31.05.1943 auf dem Friedhof Gohlis beigesetzt. Salomon Gutter wählte nach der Verhaftung seiner Schwester Ruth ebenfalls den Freitod. Er stürzte sich vom Dach des elterlichen Hauses und verstarb gegen 20 Uhr auf dem Weg in das Krankenhaus St. Georg.

Ehrensteinstraße 32 – Familie Gattermeyer: Hermann Gottfried 1881 – 14.02.1945 Freitod in Leipzig durch Gas), Lilli, geb. Meyer (02.08.1898 München – 14.02.1945 Freitod in Leipzig durch Gas) und Gertraud Gattermeyer (28.04.1928 Minden – 14.02.1945 Freitod in Leipzig durch Gas). Weitere biografische Details zur Familie Gattermeyer siehe Abschnitt Jüdisches Leben in Gohlis.

Georg-Schumann-Straße 78 – Paula, geb. Baruch 1879 Hamburg – wahrscheinlich am 09.10.1944 im KZ Auschwitz gest.) und Eugen Hammel (24.04.1869 Neusalz an der Oder – 1942 Ghetto Theresienstadt
Der Kaufmann und Inhaber einer Textilhandlung Eugen Hammel und seine Ehefrau Paula wurden am 19.09.1942 nach dem erzwungenen Abschluss eines „Heimeinkaufsvertrags“ nach Theresienstadt deportiert. Nach kurzer Zeit verstarb Eugen Hammel wie viele andere aufgrund der unmenschlichen Bedingungen im Ghetto. Paula Hammel wurde am 09.10.1944 nach Auschwitz verschleppt und spätestens nach Ankunft des Transports ermordet. Die Tochter des Paares, Käthi Hammel, überlebte den Holocaust.

Heinrich-Budde-Straße 27 – Dr. Margarete Bothe: 1914 Merseburg – erschossen am 12.04.1945 Leipzig.
Margarete Bothe war das dritte Kind des Merseburger Landrats und späteren Generaldirektors der Städtefeuersozietät der Provinz Sachsen Gustav Bothe und der Tochter des Merseburger Dompredigers und Stiftssuperintendenten Prof. D. Wilhelm Bithorn. Sie ließ sich in Braunschweig zur Volksschullehrerin ausbilden und studierte ab 1938 in Heidelberg und nach Kriegsausbruch an der Leipziger Universität Germanistik, Geschichte und Geographie. Nach ihrer Promotion beendete Dr. Margarethe Bothe ihr Studium mit dem Staatsexamen für das höhere Lehramt. In das Visier der Gestapo geriet sie als Untermieterin des ehemaligen
Philosophieprofessors und Lehrers der Höheren Israelitischen Schule zu Leipzig Alfred Menzel und dessen Frau. In der Wohnung des Ehepaares trafen sich Regimegegner und man war 1942/43 dazu übergegangen, ausländische Rundfunksender zu hören. Im Winter durfte sich Margarete Bothe bei ihren Vermietern aufwärmen und hörte dadurch die Sendungen mit. Unvorsichtigerweise gab sie ihre Informationen an eine Kommilitonin weiter und wurde im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler denunziert. Am 01.12.1944 wurde sie verhaftet, ihre ehemaligen Vermieter drei Tage später. Nach Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft wegen „Rundfunkverbrechens“ fand der Prozess gegen Dr. Margarete Bothe am 01., 06. und 08.02.1945 vor dem Sondergericht I in der Elisenstraße 64 (heute Bernhard-Göring-Straße) statt und endete mit einem Freispruch. Sie wurde dennoch nicht von der Gestapo entlassen, weil das Hören von ausländischen Sendern nicht das Entscheidende war, sondern weil Dr. Margarete Bothe nicht bereit war, ihre Vermieter zu denunzieren. Vor der Befreiung Leipzigs durch US-Streitkräfte am 18.04.1945 wurde sie zusammen mit 51 Häftlingen aus den Leipziger Gestapo-Gefängnissen erschossen.

Heinrich-Budde-Straße 50 – Werner Schilling: 1917 Leipzig – 24.07.1944 Zuchthaus Brandenburg
Werner Schilling wurde in Leipzig-Stötteritz geboren, verlebte seine Kindheit in Borna und besuchte bis 1932 die 30. Volksschule in Stötteritz. Am 13.01.1939 ehelichte er Helga Grossmann. Das Paar wohnte in der damaligen Beaumontstraße 50 (heute Heinrich-Budde-Straße).Schilling arbeitete als Bürobote bei einer Bank. Am 05.01.1940 wurde Werner Schilling zur Wehrmacht eingezogen, aber bereits am 20.12.1940 vom Landgericht Breslau wegen Fahnenflucht zu sieben Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. 1941 kam er in das in Fulda aufgestellte InfanterieErsatz-Bataillon 500, die sogenannte „Bewährungstruppe 500“. Durch „Bewährung im Kampf“ konnte man die ausgesetzte Haftstrafe löschen oder verkürzen. Werner Schilling desertierte wieder und wurde am 10.02.1943 in Leipzig gestellt, wo er am 22.03.1943 aus einer Außenstelle der Untersuchungshaftanstalt erneut floh. Im Kreis Johannisburg/Ostpreußen (heute Pisz) wurde er am 18.05.1943 von der Gestapo festgenommen. Das Gericht OFK 225 Skierniewice in der Nähe von Warschau verurteilte ihn am 17.09.1943 wegen Fahnenflucht zum Tode. Das Urteil an Werner Schilling wurde am 27.04.1944 im Zuchthaus Brandenburg vollstreckt.

Menckestraße 7a – Familie Cohn, Louis Henry 1895 Leipzig – 06.02.1943 KZ Auschwitz ermordet, Paula, geb. Grosz 1899 Leipzig – verschollen 1943 im KZ Auschwitz), Ernst 1922 Leipzig – verschollen 1943 im KZ Auschwitz) und Günter Heinz 1923 Leipzig – ermordet am 24.05.1943 im KZ Auschwitz.
Der Kaufmann und Inhaber einer Firma für Landmaschinen Louis Henry Cohn ehelichte am 03.11.1921 in Leipzig Paula Grosz. Aus der Ehe gingen die Söhne Ernst und Günter Heinz hervor, die mit einer Lehre bei der Firma Rosenfeld ebenfalls die kaufmännische Laufbahn einschlugen. Am 04.06.1939 gingen alle jüdischen Verbände und Gemeinden zwangsweise in der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ auf, deren Angestellte das Ehepaar Cohn daraufhin war. Alle nach dem Nürnberger Rassegesetzen als jüdisch geltende Person wurden beitragspflichtige Zwangsmitglieder. Ziel der dem Reichsministerium des Inneren, der Gestapo, dem Sicherheitsdienst (SD) und ab September 1939 dem Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) unterstellten Vereinigung war es, die Auswanderung und Berufsausbildung der jüdischen Bevölkerung zu organisieren und nach Kriegsausbruch letztendlich die Auflösung jüdischer Gemeindereste zu betreiben. Im Mai 1940 unternahm die Familie einen Fluchtversuch. Louis Henry Cohn wurde am 11.11.1942 verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht. Paula Cohn wurde nach der Ergreifung ihres Gatten in der Roscherstraße zur Zwangsarbeit verpflichtet. Am 17.02.1943 wurde sie mit ihren Söhnen erst nach Berlin und dann am 26.02.1943 nach Auschwitz deportiert. Die Spuren von Paula und Ernst Cohn verlieren sich im KZ. Günter Heinz Cohn wurde dort am 24.05.1943 ermordet.

Poetenweg 15 – Familie Philippsohn: Erna, geb. Schönstadt 1899 – verschollen 1943 KZ Auschwitz, Walter 1897 Sachsenhagen (Hessen-Nassau) – verschollen 1943 KZ Auschwitz, Werner David 1926 Leipzig – verschollen 1943 KZ Auschwitz
Der Kaufmann und Mitinhaber eines Bankgeschäfts Walter Philippsohn wurde mit seiner Familie am 12.11.1938 nach der Pogromnacht im Rahmen einer „Sonderaktion“ verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Am 27.02.1943 kam die gesamte Familie in das Polizeihaftlager Dresden-Hellerberg und wurde am 01.03.1943 nach Auschwitz deportiert. Seitdem fehlte von der Familie Philippsohn jede Spur und es muss davon ausgegangen werden, dass sie im KZ umgekommen sind.

Richterstraße/Ecke Karl-Rothestraße (ehemalige Richterstraße 2) – Steindorff, Lucie 1879 Dessau – 10.05.1942 in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet
Die Klavierlehrerin Lucie Steindorff war Tochter des berühmten Ägyptologen Georg Steindorff (nach ihm ist das Ägyptische Museum der Universität Leipzig benannt). Bei Hausdurchsuchungen in Leipziger jüdischen Haushalten am 13.01.1941 wurden bei Lucie Steindorff, die damals zur Untermiete in der Grassistraße 20 wohnte, 500 Reichsmark gefunden, die sie für ihre Ausreise hinterlegt hatte. Sie wurde wegen „Devisenvergehens“ inhaftiert und in das Polizeigefängnis Wächterstraße gebracht. Alle Bemühungen ihrer Geschwister in den USA, ihre Schwester nachzuholen, schlugen fehl. Lucie Steindorff wurde am 28.03.1941 in das KZ Ravensbrück deportiert und am 10.05.1942 in der Tötungsanstalt Bernburg (Euthanasie?) ums Leben gebracht.

Wangerooger Weg 17 – Julius Krause 1882 Wollstein (Provinz Posen, heute Polen) – 16.11.1938 im KZ Buchenwald umgebracht, Rosalie Krause, geb. Adler 1893 München – 08.01.1939 an den Folgen der Pogromnacht verstorben
Der Maurer und spätere Architekt Julius Krause hatte während seines Studiums in Berlin-Charlottenburg erste Kontakte zu Gewerkschaften und wurde Mitglied der SPD. 1910 siedelte er nach Leipzig über und betrieb von 1919 bis zur Liquidation 1928 eine Firma für Eisenkonstruktionen und später ein technisches Baubüro. Über seine Eheschließung mit Rosalie Adler ist nichts bekannt. Krause engagierte sich sowohl im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) als auch in der SPD. Er war 1923/24 und 1926 Stadtverordneter und von 1930 bis 1933 ehrenamtliches Ratsmitglied. Als Jude musste er 1933 sein Mandat niederlegen und schlug sich aus den daraus resultierenden beruflichen Schwierigkeiten als Handelsvertreter und Buchhalter durch. Am 10.11.1938, unmittelbar nach der Pogromnacht, wurde Julius Krause aus seiner Gohliser Wohnung ins KZ Buchenwald verschleppt, wo er verstarb. Seine Frau Rosalie ließ an den Folgen der Terrornacht ihr Leben.

Der Talmud lehrt uns: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Die Stolpersteine helfen mit, dass dies nicht geschieht. Die Opfer mahnen uns: NIE WIEDER FASCHISMUS; NIE WIEDER KRIEG !

Quellen: www.stolpersteine-leipzig.de; Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabstein.
Gedenkbuch für die Leipziger jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung,
Hrsg. von Rolf und Brigitte Kralovitz in Verbindung mit der Ephraim-Carlebach-
Stiftung und der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, Leipzig 2011