von Gabriela Lewandowski, Lina Edel und Philipp Harazin

Matthias Schreiber (Jahrgang 1958) ist seit 1981 Cellist im Gewandhausorchester, sah auf Tourneen mehr von der Welt als die meisten DDR-Bürger. Im Herbst 1989 beteiligte er sich, abwechselnd mit seiner Frau, an den Leipziger Montagsdemos. Weil er als Schüler nicht in der Jugendorganisation FDJ war, bekam er keine Zulassung zum Abitur. Dennoch konnte er in Leipzig Musik studieren. Seine Ehefrau Uta Schreiber (Jahrgang 1963), war als Kind Mitglied der Jungen Pioniere und später auch der FDJ. Zugleich engagierte sie sich in der Jungen Gemeinde. Nach dem Abitur studierte sie in Weimar Musik und ist gegenwärtig als freiberufliche Musikerin tätig.

Sie sind mit dem Gewandhausorchester auch im Westen aufgetreten. Gab es ein Konzert, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Herr Schreiber:
In meiner ersten Spielzeit vom August 1981 bis zum Juli 1982 war ich mit der Leipziger Oper zum Gastspiel in Madrid. Üblicherweise durften die Musiker damals in ihrer ersten Saison noch nicht mit auf Westreisen. Aber es ergab sich, dass damals das Gewandhausorchester eine Konzertreise hatte und parallel dazu auch die Oper. Es fehlten also Musiker, und deshalb konnte ich mitfahren. Das war wunderbar: eine Woche mit der Oper in Madrid! Wir fühlten uns wie in einer anderen Welt. Es war dort alles irgendwie bunter, und die Menschen waren locker, wie die Südländer eben sind. Wir haben auch Spätvorstellungen gegeben, mit Opern, die sehr lange dauerten, wie Wagners „Meistersänger“. Danach konnten wir nachts bis um drei in die Gaststätten gehen und draußen auf der Straße sitzen. Das alles kannten wir von zu Hause nicht. Da war es grau und trist, die Luft war dreckig und an den Häusern blätterte der Putz ab.

Klar, waren ein oder zwei Offizielle von der Stadt mit dabei, und ein paar Stasileute unter den Kollegen auch, aber wir konnten uns dort uneingeschränkt frei bewegen, wann und wie wir wollten. Während der Bahn- und Busfahrten konnten wir den „Spiegel“ lesen, das hat niemanden interessiert, auch von den Begleitpersonen nicht. Das war im Rundfunkorchester ganz anders, wie ich von einem Musikerkollegen weiß, der dort mal mit auf Tournee war. Dem wurde klargemacht, dass Westzeitschriften nicht erlaubt sind. Der DDR-Rundfunk war als staatliche Institution eben viel mehr kontrolliert als wir im Gewandhausorchester.

Zurück zu Ihrer Schulzeit. Sie wurden nicht zum Abitur zugelassen, weil Sie nicht in der FDJ waren. Wie kam es eigentlich dazu?

Herr Schreiber:
Mein Vater war Pfarrer und ich bin in einem kirchlichen Haushalt großgeworden. Meine älteren Brüder waren auch nicht bei den Pionieren und nicht in der FDJ. Da war das für mich irgendwie folgerichtig. Aber man war auch so bissel stolz drauf, dass man da nicht drin war. Dass Nachteile damit verbunden sind, das hat man dann später bemerkt. Das betraf auch nicht alle gleichermaßen. Mein ältester Bruder durfte auf die Oberschule gehen und Abitur machen, obwohl er nicht in der FDJ war. Das war alles sehr willkürlich. Verletzend war eigentlich nur, dass da Leute zum Abitur zugelassen wurden, die deutlich schlechter in der Schule waren als ich, die sich aber für drei Jahre zur Armee verpflichtet haben und über diese Schiene zum Abitur gekommen sind. Das empfand ich als große Ungerechtigkeit. Wir waren eine kleine Gruppe von drei oder vier Schülern in der Klasse, die nicht in der FDJ waren.

Und alle anderen konnten dann das Abitur machen?

Herr Schreiber:
Nein. Das muss man vielleicht erklären. Es gab die Zehn-Klassen-Schule, das war die normale Schule. Und dann gab es die Erweiterte Oberschule, da konnte man Abitur machen. Da ist man dann in der neunten Klasse hingegangen. Dort gab es eine begrenzte Platzanzahl. Also nicht jeder, der etwa den entsprechenden Notendurchschnitt hatte, konnte Abitur machen. Dafür musste man sich bewerben. Da wurde ausgewählt, zum Teil nach der sozialen Herkunft der Eltern. Denn der Staat hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, die Arbeiterklasse besonders zu fördern. Also wurden Arbeiterkinder bevorzugt. Das war auch der Grund der Ablehnung bei mir. Und das haben sie auch so geschrieben.

Frau Schreiber:
Es ging aber auch danach, was in der Wirtschaft gebraucht wurde. Nicht so wie heute, wo jeder die freie Berufswahl hat, damals ging es darum, was gebraucht wurde, das wurde ausgebildet. In der DDR waren es nur ungefähr 10 % eines Schülerjahrgangs, die Abitur gemacht haben.

Sie konnten, anders als Ihr Mann, das Abitur ablegen.
Frau Schreiber:
Mein Mann hatte als Schüler Rückhalt von seinen Eltern, und dann waren in seiner Klasse auch andere nicht in der FDJ, und er wurde relativ in Ruhe gelassen. In meiner Schule wäre das jeden Tag ein Spießrutenlauf gewesen. Das hätte ich nicht ausgehalten. Also war ich bei den Pionieren und in der FDJ. Alles hing sehr davon ab, an wen man geriet und mit wem man gerade zusammen war. Ich bin in Döbeln in die Schule gegangen, das ist liegt in Richtung Dresden, da gab es nie Westfernsehen. Und dort war der Kreisschulrat ein ganz scharfer Hund.

Herr Schreiber:
Die Lehrer, die ich hatte, waren sehr verschieden. Manche haben viel Wert darauf gelegt, dass alles ideologisch richtig ist. Aber wir hatten auch einen ganz tollen Deutschlehrer. Da gab es schon Freiräume. Es war nicht alles so schwarz-weiß, wie es heute manchmal erscheint. Da kam sehr viel auf die Persönlichkeit der Lehrer an.

Wussten Sie damals, als Sie nicht zum Abitur zugelassen wurden, schon, dass sie Musiker werden wollen? Oder ist das dann erst später gekommen?

Herr Schreiber:
Das kam erst später. Ich hatte zunächst eine andere Berufsvorstellung. Ich hatte auch eine Lehrstelle. Das war damals anders als heute. Es gab in dem Kreis, in dem man wohnte, eine bestimmte Zahl an Lehrberufen, und wenn da nichts dabei war, was einem gefiel, dann hatte man Pech und musste trotzdem irgendwas davon machen. Es war undenkbar, dass man sagte: Ich mache erstmal gar nichts. Oder ein Auslandsjahr, das sowieso nicht. Oder ich ziehe irgendwohin und nehme mir eine Wohnung, weil es dort eine Lehrstelle gibt, die mir vielleicht gefällt. Das war undenkbar, es gab ja auch keine Wohnung. Also, ich hatte eine Lehrstelle, das hat mich auch interessiert, so Elektronikkram, also, was damals so Elektronik war. Ich habe die Lehre aber dann nicht angetreten. Wir haben zu Hause viel Musik gemacht, und mein ältester Bruder hat auch Musik studiert. Und ich hab dann einfach ordentlich geübt und es war wohl ausreichend. Jedenfalls dafür, dass ich meine Aufnahmeprüfung geschafft habe.

Eigentlich brauchte man doch das Abitur, um zu studieren. Und Sie hatten keins.

Herr Schreiber:
Das Abitur ist grundsätzlich die Voraussetzung. Zu Kunststudiengängen, also Musik, Malerei, Grafik, Fotografie usw. kann man aber auch ohne Abitur zugelassen werden. Das ist auch heute noch so.

Frau Schreiber:
Es gibt eine Klausel, dass man auf Grund besonderer Begabung auch ohne Abitur studieren kann. Früher war das bei den Musikstudenten in der DDR gar nicht so selten. Viele waren zuvor auf einer Spezialschule. Das war so ein Aussieben der Talente schon in der Kindheit, ähnlich wie in den Sportschulen. Eine andere Variante war, dass man bis zur zehnten Klasse in die Schule ging und sich dann für ein Musikstudium bewarb. Wenn man gut genug war, bekam man ein Vorstudienjahr. Das heißt, man war schon an der Hochschule, wenn auch noch kein richtiger Student. Man hatte noch ein bisschen Schulunterricht in zwei oder drei Fächern. Der Rest waren schon vorbereitende Fächer fürs Studium. Danach kam man dann ins erste Studienjahr.

Eine Frage zum Herbst 1989. Sie haben sich damals an den Montagsdemos beteiligt. Woran erinnern Sie sich?

Herr Schreiber:
Meine Frau und ich, wir sind abwechselnd zu den Montagsdemonstrationen gegangen. Damit immer einer für die Kinder da ist. Man wusste ja am Anfang nicht, wie es ausgeht, ob man wieder heimkommt. Am 9. Oktober gab es viele Gerüchte. Dass unheimlich viel Bereitschaftspolizei und Panzer zusammengezogen wurden, dass man in den Krankenhäusern zusätzliche Blutkonserven bereitgestellt hätte, dass sich Ärzte auf Schussverletzungen vorbereiten sollten. Und alles solche Sachen. Das war schon beängstigend.

Können Sie sich erklären, warum die Sicherheitsorgane dann doch nicht zugeschlagen haben?

Frau Schreiber:
Ich denke, da kam vieles zusammen. Da gab es ja namhafte Leute, die sich mit ihrer Person gegen ein gewaltsames Vorgehen gestellt haben. Der Aufruf der Leipziger Sechs, der über den Stadtfunk verbreitet wurde. Ganz wichtig war, dass sich die Demonstranten nicht zu irgendwelchen Gewalttaten hinreißen ließen. Die waren ja vorher in den Kirchen gewesen, bei den Friedensgebeten wurden sie eingestimmt darauf. Gegen die Friedfertigkeit, die von den Demonstranten ausging, waren Polizei und Armee irgendwie machtlos. Das war eine Erfahrung, die mir immer noch eine Gänsehaut macht.

Welche Veränderungen haben Sie sich damals am meisten gewünscht?

Frau Schreiber:
Mir war ganz wichtig, frei zu entscheiden, wie ich leben möchte und wo ich leben möchte. Reisen zu können. Zu entscheiden, wen ich treffen und welche Bücher ich lesen möchte. Dass ich mich nicht mehr belügen lassen muss und dass ich mir die Zeitung aussuchen kann, die ich lesen will.

Herr Schreiber:
Ich habe gehofft, dass die Umweltsituation deutlich besser wird. Dort, wo ihr heute baden geht, waren ja damals Braunkohlentagebaue. Und die Kraftwerke hatten noch keine modernen Filteranlagen. Auch die Chemieindustrie in Bitterfeld und in Leuna war alles andere als sauber.

Frau Schreiber:
Zu Hause haben alle Leute mit Kohle geheizt. Ab Oktober zog dieser Kohlenrauchgeruch durch die Straßen. Von diesen ekelhaften schwefelhaltigen Kohlen. Smog, unentwegt Smog, den ganzen Winter durch…

Ist nach der Wende alles Wirklichkeit geworden, was Sie sich erhofft hatten?

Frau Schreiber:
Ich habe nicht erwartet, dass jetzt die immerwährende Glückseligkeit eintreten würde. Es gab verpasste Chancen, viele Menschen sind auf der Strecke geblieben, und um die hat sich niemand gekümmert. Viele im Osten mussten sich komplett umorientieren, verloren ihre Arbeit und hatten das Gefühl, das liegt daran, dass sie nichts taugen, dass sie nicht gut genug sind. Damals kamen ja viele Glücksritter in den Osten, die hier ihren Reibach gemacht haben. Die haben Immobilien aufgekauft. Und Firmen, die sie dann platt gemacht haben. Nachdem die Fördergelder einkassiert waren, flogen die Beschäftigten auf die Straße. Das hat nicht zur Überwindung der Spaltung zwischen Ost und West beigetragen.

Herr Schreiber:
Statistiken sagen, dass es bis heute zwischen West und Ost ein Lohngefälle gibt, ein Rentengefälle, ein Wohlstandsgefälle. Dabei muss ich sagen: Uns geht es wirklich gut. Das können nicht alle von sich sagen. Es liegt ja auch nicht immer an einem selbst. Wir haben einfach Glück gehabt, mit dem Beruf, auch mit dem großen Orchester, dass das weiterbesteht. Viele kleine Orchester wurden nach der Wende aufgelöst, da sieht es ganz anders aus.

Frau Schreiber:
Es gibt in jedem System Probleme. Aber im Grunde genommen bin ich froh und dankbar, dass wir in einem System leben, so wie es jetzt ist. Vor allen Dingen hat man das Gefühl, man kann was machen. Und es gibt Wege, irgendwie zum Besseren zu kommen. In der DDR hattest du da nicht sehr viele Möglichkeiten.

(gekürzt und redaktionell bearbeitet von Wolfgang Leyn)