Von Valentina Michel, Alena Ackermann und Sophie Schmeiduch (Bearbeitet und gekürzt durch Ursula Hein und Wolfgang Leyn)

Dr. Karl Heinz Hagen, Jahrgang 1954, absolvierte 1973-77 bei Carl Zeiss Jena eine Berufsausbildung mit Abitur. Nach dem Pädagogik-Studium war er bis 1985 Lehrer für Geschichte und Deutsch an der 10-klassigen Polytechnischen Oberschule „Friedrich Schiller“ in Gohlis, der Turmschule. 1989 folgte die Promotion an der Uni Leipzig. 1990 wurde er vom Kollegium der Schillerschule zum Schulleiter gewählt. Gemeinsam mit Schülern und Eltern entwickelte er das Konzept eines allgemeinbildenden Gymnasiums mit beruflicher Orientierung. Doch Sachsen übernahm das gegliederte Schulsystem nach dem Vorbild Bayerns und Baden-Württembergs, das Thema war damit erledigt. 1992 wechselte er als Lehrer und Oberstufenberater ans Humboldtgymnasium, organisierte dort die ersten Schülerfirmen in Sachsen. 1995-2010 war er Referent am Sächsischen Institut für Lehrerfortbildung in Meißen-Siebeneichen, seit 2006 auch Lehrer am Beruflichen Gymnasium. Zur Zeit der Wende lebte er mit Frau und drei Kindern in Leipzig.

Gibt es etwas, das typisch für die Erziehung der Kinder in der DDR war oder für Ihr Leben als Kind oder Jugendlicher?

Typisch war, dass wir eigentlich in der gesamten Schulzeit in eine Organisation eingebunden waren. Erst die Jungpioniere und später der Jugendverband FDJ. Die waren straff organisiert, mit Uniformen und Fahnen. Das haben wir als normal betrachtet und nicht groß darüber nachgedacht. Natürlich sind wir damit in gewisser Weise beeinflusst, ja sogar vereinnahmt worden. Andererseits hatte ich eine sehr glückliche Kindheit.

Unter welchen Verhältnissen sind Sie aufgewachsen?

Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wir hatten den Wald vor der Haustür. Ich hatte einen großen Freundeskreis. Kinder waren damals unbeschwerter unterwegs, die Eltern hatten auch nicht so eine Angst um sie. Wenn wir mal mit einem aufgeschlagenen Knie nach Hause kamen, rannte niemand zum Anwalt, damit derjenige, der das Loch in der Straße zu verantworten hat, dafür bezahlen muss. Da kriegte man paar hinter die Ohren: Pass beim nächsten Mal besser auf. Das Leben der Menschen war damals von mehr Zusammenhalt geprägt. Das war aber auch dem Mangel geschuldet. Jeder hatte irgendwas, das man nicht ohne weiteres kriegte. Der eine hatte Holz, der andere hat selbst geschlachtet, das war auf dem Land so. Da hat man dann getauscht, hat sich auch gegenseitig geholfen.

Sind Ihre Träume und Ziele von damals vergleichbar mit denen der jetzt 20- oder 30-Jährigen?

Ich denke, wir waren in der gleichen Weise verrückt wie die heute 20-Jährigen, wir hatten nur andere Bedingungen. Bei uns gab es noch kein Internet, keine Handys. Wir hatten Freundinnen, Freunde. Wir haben uns nach der Schule verabredet, waren zusammen beim Jugendtanz. Was wir damals nicht hatten, das waren diese Reisemöglichkeiten, wie sie heute zum Beispiel meine Enkeltöchter haben. Wo die überall schon waren mit ihren neun bzw. viereinhalb Jahren! Aber ich frage mich manchmal, was für sie noch ein erstrebenswertes Ziel sein wird, wenn sie 20 … 25 Jahre alt sind, als Studenten. Wenn ich hätte reisen können, hätte ich das vielleicht auch gewollt. Aber das war für uns kein Thema. Ich habe an der Grenze im Sperrgebiet gewohnt. Am Zaun war die Welt zu Ende. Basta!

Würden Sie sagen, dass die Mauer heute noch in den Köpfen existiert?

Je nachdem. Die Leute haben ja ganz Verschiedenes erlebt. Manche haben überhaupt nicht verstanden, was da passiert ist. 1989 war ich 35 Jahre alt und hatte an der Uni promoviert, dann ist über Nacht alles umgekippt. Was bisher unten war, ist auf einmal oben, und du musst dich neu orientieren. Da gab’s Leute, denen ist das relativ leicht gefallen, die gingen damals über Österreich in den Westen. Manche haben sogar ihre Kinder zurückgelassen. Andere kamen mit der Entwicklung überhaupt nicht klar und sind in Depressionen verfallen. Wieder andere haben völlig euphorisch „Helmut, Helmut!“ gerufen, denen konnte es mit der Einheit gar nicht schnell genug gehen. Die Mauer in den Köpfen, die gibt es bis heute, nicht nur bei den Ostdeutschen. Wenn man in Bayern oder in Österreich mit Einheimischen zusammensitzt und ins Gespräch kommt, da staunt man, wie wenig die wissen von dem, was im Osten passiert ist. Für viele Wessis hatte man hier den Slogan: „Jung, dynamisch, erfolglos“. Eine anderer böser Spruch war: „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist das anders rum.“ Andererseits galten wir als „Jammer-Ossis“. Ich sehe die Chance, diese Vorurteile zu überwinden bei eurer Generation und der Generation meiner Kinder – ich habe selber drei erwachsene Kinder – und ich sehe, wie entspannt, wie ganz anders sie an manche Sachen herangehen. Aber ich sehe auch die Verantwortung, sich mit der Geschichte zu beschäftigen.

Zurück zu zwei Daten, dem 9. Oktober 1989 und dem 9. November. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich sage ganz ehrlich, ich habe nicht zu den mutigen Männern und Frauen gehört, die über den Ring marschiert sind, mit dem Ziel, diese DDR zu beseitigen. Ich war zu der Zeit verheiratet, hatte drei Kinder und hatte erlebt, wie die Staatssicherheit über den Lebensgefährten meiner Mutter zugegriffen hatte. Uns war nicht klar, wie der 9. Oktober ausgehen würde. Es war ein großes Glück, dass Kurt Masur und die anderen fünf, darunter der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, sich mit der Bitte an die Bevölkerung gewandt haben, die Situation nicht in Gewalt ausarten zu lassen. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Es ist bis heute ungeklärt, ob es einen Schießbefehl wirklich gegeben hat. Ich kam gegen 17 Uhr aus der Uni, da standen Autos von der Kampfgruppe und von der Armee. Die Straßenbahngleise am Augustusplatz, dem damaligen Karl-Marx-Platz, waren schon gesperrt, man musste also drüben bei der Hauptpost einsteigen. Ich hatte große Sorge, ich musste meinen Jüngsten aus der Kinderkrippe abholen. Da kamen dann Autos gefahren mit Leuten von der Staatssicherheit, die hatten Maschinenpistolen zwischen den Knien. Ich hab meinen Sohn abgeholt, wir sind nach Hause gefahren und haben gewartet, was passiert.

Der neunte November, damit hat man echt nicht gerechnet. Das war ein Versprecher von Schabowski, der einfach eine Meldung falsch interpretiert hat. Die Frage hieß: „Ab wann gilt diese Öffnung?“ und er sagte: „Ich meine, ab jetzt“. Damit war dann natürlich die Grenze offen. Kurz darauf setzte dieser Run auf das Begrüßungsgeld ein. Die Züge waren überfüllt. Meine Frau hat das einmal mitgemacht, das hat unser Jüngster fast nicht überlebt, die Leute im Zug hätten ihn beinahe zerquetscht. Zu diesem Zeitpunkt stand die Frage der deutschen Einheit noch nicht auf der Tagesordnung. Das passierte erst im Dezember 1989. Da hat dann Helmut Kohl in Dresden seine Rede gehalten, hat sein Zehn-Punkte-Programm aufgelegt und da kam dann konkret die Forderung, die beiden deutschen Staaten zu vereinigen.

Bei der großen Demonstration am 4. November 1989 in Berlin, wo auch viele Künstler gesprochen haben, ging es den meisten darum, so wie mir auch, im Sinne von Gorbatschows Perestroika diesen Staat DDR zu reformieren. Dann haben wir 1990 durch Gorbatschow diese Chance bekommen: die Einheit zum Nulltarif. Die Russen haben ihre Soldaten bis 1994 komplett abgezogen. Das war mit Kohl ausgehandelt, und Gorbatschow hat sich daran gehalten.

Welche Auswirkungen hatten Mauerfall und Einheit für Sie und Ihre Familie?

Mein Vater war damals 63. Als Meister im Zeiss-Werk war er für zehn, fünfzehn Leute verantwortlich. 1991 kam er eines Tages in die Spätschicht und man sagte ihm: „Das ist heute deine letzte Schicht, ab morgen brauchst du nicht mehr zu kommen.“ Nach 42 Arbeitsjahren. Der kam abends mit seinem Bündel nach Hause und hat ein halbes Jahr gebraucht, sich wieder zu sortieren. Meine Schwester war Zahntechnikerin in einem Krankenhaus. Das Labor wurde von einem Wessi gekauft, und als erstes wurden danach alle Frauen rausgeschmissen.

Meine Frau hat sich vor allem um die Familie gekümmert. Aber ich hatte den Ehrgeiz, mich als Schulleiter einzubringen, den Unterricht neu zu konzipieren, das Schulgebäude zu verändern. 1990 war das einzige Mal, dass in Thüringen und Sachsen ein Schulkollegium seinen Schulleiter wählen konnte, und ich bekam über 80% der Stimmen. Dann gab es 1992 eine Ausschreibung für die neuen Schulleiterstellen, weil in Sachsen die Schularten so wie in Bayern und Baden-Württemberg installiert worden sind. Damit war ich draußen und musste mich ganz neu bewerben. Nach dieser „Klatsche“ lag ich ein halbes Jahr am Boden. Da musst du dir überlegen, stehst du wieder auf und es geht weiter oder verfällst du in Selbstmitleid und ziehst dich zurück.

Würden Sie das heutige Schulsystem oder das von früher als erfolgversprechender bezeichnen?

Meine größte Erwartung war eigentlich, dass mit der Wende das Bildungssystem in ganz Deutschland verändert wird. Ich war sehr enttäuscht, dass aus dieser einmaligen Chance so wenig gemacht wurde. Beide Bildungssysteme hatten Vor- und Nachteile. Man hat leider nicht versucht, abzuwägen, was man hätte aus beiden Systemen machen können. Das DDR-System war ideologisch völlig überfrachtet und so wie es war, nicht erhaltenswert. Beim heutigen System sehe ich als entscheidenden Nachteil, dass die Entscheidung über die weiterführende Schulart nach der 4. Klasse zu früh ist. Ich glaube, mit 13 oder 14 Jahren weiß man das besser. Ihr habt natürlich am Gymnasium ab Klasse 5 ein anderes Anspruchsniveau. Andererseits habe ich auch erlebt, dass Kinder ins Gymnasium hineingeschoben wurden und dann nach der 7. Klasse abgegangen sind. An der Mittelschule galten sie dann als Loser, die das Gymnasium nicht geschafft haben. Es braucht schon für das Gymnasium eine große Leistungsvoraussetzung, Willensstärke und auch Unterstützung, damit sich ein Kind in dem Alter ordentlich etablieren kann. Ich fand die naturwissenschaftliche Ausbildung in der Breite früher besser. Heute ist in den Lehrplänen meines Erachtens zu viel Spezialwissen drin. Meine Hoffnung wäre gewesen, diese solide naturwissenschaftliche Ausbildung zu kombinieren mit Kurssystem und Wahlmöglichkeiten.

Wie haben Sie als Geschichtslehrer sich auf die neuen Anforderungen eingestellt?

Das war ganz einfach und zugleich schwierig. Einfach insofern, als es jetzt eine große Anzahl von Schulbuchverlagen gab, die uns regelrecht überschüttet haben mit ihrem Angebot an Unterrichtsmaterialien. Wenn man halbwegs interessiert war und sich gekümmert hat, dann hatte man jetzt Möglichkeiten, sich einzubringen. Damals habe ich nebenher nochmal angefangen zu studieren. Das, was wir früher gelernt hatten, war ja im Schwerpunkt DDR-Geschichte mit der Arbeiterbewegung, Marx, Lenin usw., aber zum Beispiel die Französische Revolution wurde nur gestreift. Allerdings hatten wir gelernt, ordentlich wissenschaftlich zu arbeiten. Dann habe ich mich also in die Deutsche Bücherei gehockt und neben meinem Unterricht gelesen, gelesen, gelesen. Ich habe nochmal ein gesamtes Studium für mich durchgezogen, und als ich dann am Humboldtgymnasium war und Leistungskurse hatte, da war man richtig gefordert. Ich habe von niemandem mehr verlangt als von mir selbst. Den Schülern muss man günstige Rahmenbedingungen schaffen, muss ihnen etwas zutrauen und sie laufen lassen. Genauso wie bei unseren Schülerfirmen: Wir hatten ein Schüler-Café, ein Reisebüro, einen Schreibwarenladen. Die Schüler haben gearbeitet, sie waren Sonnabend früh da, ohne dass sie gezwungen wurden. Mit dem Reisebüro haben sie sich ihre Kursfahrt verdient.