von Matthias Judt

Die Bleichert-Werke scheinen langsam in Vergessenheit zu geraten, zumal ihre Geschichte als größtes Industrieunternehmen in Gohlis bereits 1993 endgültig zu Ende gegangen ist. Die Leipziger Volkszeitung hat allerdings 2017 in einer Multimediapräsentation Historie und Gegenwart des Betriebsgeländes in Gohlis noch einmal visuell dargestellt. (1) Zudem gibt es von Videofilmern gemachte Aufnahmen (2) und Fotos (3), die den Verfall der einst so belebten Fabrikhallen seit ihrer Außerbetriebnahme dokumentieren. Mit ihrem Umbau zu Wohnungen wird den ehemaligen Bleichert-Werken neues Leben eingehaucht. (4)

Ihre Geschichte ist in einer Reihe von Publikationen für eine breite, historisch interessierte Öffentlichkeit aufgearbeitet worden. (5) Die wichtigsten der von dort präsentierten Fakten sind auch in Internetquellen abrufbar. (6) Daneben gibt es inzwischen wissenschaftliche Abhandlungen zur Geschichte der Bleichert-Werke. (7)

Ihren Ursprung hatten die früheren Bleichert-Werke in einem kleinen Ingenieurbüro, das am 1. Juli 1874 von Adolf Bleichert (Abbildung: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Adolf_Bleichert.jpg ) (8) und dessen Studienfreund Theodor Otto im Leipziger Zentrum gegründet worden war. Die Wege der beiden sollten sich bereits gut zwei Jahre später, am 23. August 1876, wieder trennen. Bleichert führte die Firma zunächst allein weiter und nannte sie in „Adolf Bleichert Technisches Büro, Fabrik von Drahtseilbahnen“ um. Am 1. Oktober 1877 trat schließlich der Kaufmann Peter Heinrich Piel, der Schwager Bleicherts, in das Unternehmen ein. In Neuschönefeld (damals noch nicht zu Leipzig gehörend) wurde eine Werkstatt für 20 Arbeiter gemietet, während das Ingenieurbüro vorerst im Leipziger Zentrum verblieb. (9)

Genau vier Jahre später, am 1. Oktober 1881, verlegten die beiden Unternehmer ihre gesamte Firma nach Gohlis, das zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch gar nicht Teil Leipzigs war. Es entstand die offene Handelsgesellschaft „Adolf Bleichert & Co Gohlis“ mit 20 Angestellten („Beamten“) und 70 Arbeitern. (10)

Nach Piels Tod am 30. Juli 1887 übernahmen dessen Frau Anna (eine Schwester Bleicherts) und ihre gemeinsamen Kinder die Anteile, wurden jedoch bereits im darauffolgenden Jahr von Adolf Bleichert ausbezahlt. Nichtsdestotrotz blieb der nunmehrige Name Adolf Bleichert & Co bis zur Insolvenz des Unternehmens 1932 beibehalten. (11)

Die Bleichert-Werke entwickelten sich von Beginn an rasant. Mit dem Datum des Umzuges der Firma nach Gohlis (historische Abbildungen zu den Fabrikanlagen unter http://www.vonbleichert.eu/werk-leipzig-gohlis/) verbunden war auch die Auslieferung der 100. Drahtseilbahn. Bis 1890 wurden weitere 500 davon gebaut. Neun Jahre später wurde die 1.000er-Marke überschritten. (12)

„1888 erteilte Adolf Bleichert & Co. der amerikanischen Firma Cooper, Hewitt & Co., der Muttergesellschaft der Trenton Iron Company eine Lizenz zum Bau und Vertrieb von Bleichert-Seilbahnen in den USA. Trenton Iron konnte bald darauf eine große Zahl von Seilbahnen in den USA bis nach Alaska absetzen.“ Bis Bleicherts Tod im Jahre seien Seilbahnen u.a. auch nach Frankreich, Spanien und Argentinien verkauft worden. „Die Adolf Bleichert & Co. war der führende Seilbahnbauer, der sämtliche Rekorde hielt: die höchste und längste Seilbahn in Argentinien, die längste über Wasser in Neukaledonien, die leistungsstärkste in Frankreich (500 t/h), die steilste in Tansania (86%), die nördlichste in Spitzbergen (79°) und die südlichste in Chile (41°). Sie hatte Büros in Leipzig und Brüssel, Paris und London.“ Seit 1901 unterhielt die Firma mit Bleichert’s Aerial Transporters Ltd. auch ein Tochterunternehmen in England (bis 1914). (13)

Es verwundert deshalb nicht, dass Adolf Bleichert 1890/91 unmittelbar gegenüber seiner Fabrik an der Lützowstraße eine prächtige Villa (Villa Hilda) als Familiensitz errichten lassen konnte (Abbildung: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:LE_Gohl_VillaHilda.jpg ) (14), die heute als „Heinrich-Budde-Haus“ ein soziokulturelles Zentrum beherbergt.

Die sehr erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung der Firma setzte sich in den folgenden Jahren fort. Nachdem Adolf Bleichert am 29. Juni 1901 während eines Kuraufenthaltes im schweizerischen Davos an Tuberkulose verstorben war, übernahmen seine Söhne Max und Paul die Führung des Unternehmens und entwickelten es bis zum I. Weltkrieg zur größten Drahtseilfabrik der Welt. 1911 beteiligte sich das Unternehmen an einer Eisengießerei und Maschinenfabrik in Lichtenegg in Oberösterreich (Abbildung: http://www.vonbleichert.eu/fabrik-lichtenegg-oesterreich/). Ab 1912 unterhielt Bleichert eine Fabrik in Neuss am Rhein (Abbildung: http://www.vonbleichert.eu/werk-neuss-am-rhein/).

Dabei wurde die Produktpalette ständig ausgedehnt: Seit 1902 produzierte Bleichert Elektrohängebahnen, ab 1904 Becherwerke, seit 1905 Seil- und Kettenförderer, seit 1907 Bagger und ab 1908 Transportbänder. „Während des 1. Weltkrieges wurden Feld- oder Einseilbahnen zum Einsatz hinter der Front für den Transport von Munition, Verpflegung und Verwundeten gebaut, mit denen das Unternehmen Millionengewinne erzielte.“ (15) Durch den I. Weltkrieg gingen zwar die internationalen Geschäftsverbindungen weitgehend verloren, doch die lukrativen Kriegsaufträge brachten nicht nur besagte Millionengewinne, sondern veranlassten den letzten sächsischen König Friedrich August III., Paul und Max Bleichert 1918 in den Adelsstand zu erheben. (16)

Nach dem Ende des Krieges expandierte das Unternehmen weiter. Zwischen 1919 und 1922 entstand in Eutritzsch ein zweites Werk (Abbildung: http://www.vonbleichert.eu/werk-leipzig-eutritzsch/). Das Geschäft verlagerte sich auf die Konstruktion und den Bau von Luftseilbahnen zur Personenbeförderung. 1924 wurde ein Lizenzvertrag mit dem Südtiroler Ingenieur und Unternehmer Luis Zuegg abgeschlossen gemeinsam das System „Bleichert-Zuegg“ für Seilschwebebahnen entwickelt.“ (17) Mit dem Start der Herstellung der „Eidechse“, eines Elektrokarrens, wurde ab 1925 zudem die Produktpalette des Unternehmens erneut erweitert. Er hatte zunächst eine Nutzlast von 1,5 Tonnen. (18) Im gleichen Jahr begann die Fertigung eines Elektro-LKW mit sieben Tonnen Nutzlast. (19)

Die Jahre 1926/27 stellten eine weitere Wendemarke in der Geschichte der Bleichert-Werke dar. Die Gebrüder Max und Paul von Bleichert, die schon einige Zeit zuvor die anderen Familienmitglieder ausbezahlt hatten, bereiteten die Umwandlung der seit 1881 bestehenden offenen Handelsgesellschaft (oHG) in eine Aktiengesellschaft (AG) vor. (20)

Paul von Bleichert musste 1927 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Unternehmen ausscheiden und verkaufte seine Anteile nach außerhalb, an die Felten & Guilleaume Carlswerk AG aus Köln. Sie wurde damit Großaktionär in der Bleichert & Co AG Leipzig-Gohlis. (21)

Im Jahre 1928 beschäftigte das Unternehmen etwa 1.200 Angestellte und 2.000 Arbeiter und unterhielt Tochtergesellschaften unter anderem in Neuss und in Brünn. (22)

„Infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 kam es 1931 zum Kollaps des deutschen Bankensystems. Die Adolf Bleichert & Co. konnte bei rapide sinkenden Auftragseingängen noch ein Jahr durchhalten, musste dann aber am 4. April 1932 Konkurs anmelden. Dies bedeutete zwar das Ende der Familiengesellschaft, aber das Unternehmen als solches mit seiner Kompetenz wurde in der am 23. Juni 1932 gegründeten Auffanggesellschaft Bleichert-Transportanlagen GmbH weitergeführt, die mit 73 Angestellten und 96 Arbeitern an alter Stätte die Produktion fortsetzte.“ (23)

Mit Zustimmung des Gläubigerbeirates wurde das Unternehmen an den Stahl- und Seilehersteller Felten & Guilleaume Carlswerk Actien-Gesellschaft [F&G] veräußert [der, wie erwähnt, bereits seit 1927 Anteile gehalten hatte]. Die [1928 gegründete] Kabelbagger-GmbH musste kurz darauf Konkurs anmelden, die bereits 1924 gegründete] Personenseilbahn-GmbH wurde als Tochter der Bleichert-Transportanlagen GmbH fortgeführt.“ (24) Die Bleichert-Werke wurden nunmehr aus Köln geleitet, denn in der Tat hatte F&G die neue Bleichert GmbH als Auffanggesellschaft mit Standort in Köln gegründet. (25)

Mit dem neuen Eigner erlebten die Bleichert-Werke einen erneuten Aufschwung in der Produktion von Transportanlagen verschiedener Art. Ab 1934 errichteten die Bleichert-Werke in den Alpen in Kooperation mit Partnern Schlepplifte mit neuartigen selbsttätigen Bügeleinzugseinrichtungen. Aus dem Elektrokarren „Eidechse“ wurde ein Fahrzeug mit 7 Tonnen Nutzlast entwicklet. Zwischen 1935 und 1939 fertigte Bleichert schließlich ein zweisitziges Cabriolet mit Elektroantrieb mit einer Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h und ca. 70 km Reichweite. (26)

Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges war Bleichert wieder führend im Bau von Transportanlagen für Massengüter aller Art. Es wurden Drahtseilbahnen, Kabelkrane und Nahförderanlagen konstruiert und hergestellt. Diese Produktion musste in den Kriegsjahren zurückgefahren werden.

Während des II. Weltkrieges wurden sie – wie schon im I. Weltkrieg – in die Herstellung von Kriegsmaterial einbezogen. Die Nationalsozialisten nutzten die Fabrik als Rüstungsbetrieb und ließen hier im großen Stil Granathülsen produzieren. Nicht von ungefähr wurden die Werke deshalb 1945 zum Ziel von alliierten Bombenangriffen, die starke Schäden an den Gebäuden und Einrichtungen verursachten. (27)

(1) http://multimedia.lvz.de/bleichert#561
(2) https://www.youtube.com/watch?v=K9swxXMeRZk
(3) vgl. https://www.industrie-kultur-ost.de/datenbank/maschinenbauindustrie/adolf-bleichert-werke-leipzig/.
(4) https://www.cg-gruppe.de/immobilien/projekte/in-ausfuehrung/bleichert-werke/399.
(5) Manfred Hötzel, „Die Firma Adolf Bleichert & Co. Leipzig-Gohlis und die Nachfolgebetriebe SAG Bleichert und VEB Verlade- und Transportanlagen Leipzig (VTA)/Verlade- und Transportanlagen GmbH“ (im Folgenden „Hötzel 2017a“), in Bürgerverein Gohlis (Hg.) 700 Jahre Gohlis. 1317 – 2017. Ein Gohliser Geschichtsbuch, Markleeberg 2017 (im Folgenden „Bürgerverein 2017“), S. 159-164; ders., Adolf Bleichert & Co. Leipzig-Gohlis. Kleine Beiträge zu einer großen Geschichte (=Gohlis Forum, Sonderausgabe, Dezember 2010), Leipzig 2010 (abzurufen unter www.buergerverein-gohlis.de/media/…/Sonderausgabe-Bleichertausstellung.pdf, im Folgenden „Hötzel 2010“)), ders., Adolf Bleichert und sein Werk, Beucha 2002 (im Folgenden „Hötzel 2002“).
(6) siehe z.B. http://www.leipzig-gohlis.de/tourismus/bleichert.html; André Winternitz, „Drahtseilbahnfabrik Adolf Bliechert“ (im Folgenden „Winternitz 2012“), in: http://www.rottenplaces.de/main/drahtseilbahnwerk-adolf-bleichert-3370/.
(7) vgl. Oliver Werner: Ein Betrieb in zwei Diktaturen. Von der Bleichert Transportanlagen GmbH zum VEB VTA Leipzig 1932 bis 1963 (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 101), Stuttgart 2004.
(8) Foto gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
(9) vgl. „Adolf Bleichert & Co“, in http://www.vonbleichert.eu/bleichert/ (aufgerufen am 29. Juni 2017); Hötzel 2010, S. 8.
(10) vgl. Winternitz 2012.
(11) vgl. Hötzel 2017, S. 160; Hötzel 2010, S. 9 und 16, „Adolf Bleichert & Co“, in http://www.vonbleichert.eu/bleichert/ (aufgerufen am 29. Juni 2017).
(12) vgl. Hötzel 2017, S. 160; „Adolf Bleichert & Co“, in http://www.vonbleichert.eu/bleichert/ (aufgerufen am 29. Juni 2017).
(13) wiedergegeben und zitiert nach Winternitz 2012.
(14) Foto gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
(15) wiedergegeben nach Hötzel 2017, S. 161;„Adolf Bleichert & Co“, in http://www.vonbleichert.eu/bleichert/ (aufgerufen am 29. Juni 2017). Zitat aus Hötzel 2017, S. 161.
(16) vgl. Winternitz 2012.
(17) zitiert nach Winternitz 2012.
(18) vgl. Winternitz 2012; Hötzel 2017, S. 162.
(19) Abbildungen unter: https://www.mdr.de/zeitreise/elektrokarren-aus-leipzig-100.html.
(20) vgl. Hötzel 2017, S. 162.
(21) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Bleichert_%26_Co.
(22) vgl. Winternitz 2012.
(23)Winternitz 2012.
(24) zitiert nach Winternitz 2012, Einfügungen durch MJ. Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Bleichert_%26_Co.
(25) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Pohlig.
(26) vgl. Winternitz 2012.
(27) vgl. Winternitz 2012; https://www.industrie-kultur-ost.de/datenbank/maschinenbauindustrie/adolf-bleichert-werke-leipzig/.